1852. Tag | Ab ins Hessenländle - Teil 2

Juni 06, 2022

Wie die Einstellung sich mit den Lebensjahren doch ändert. Als Teenager fand ich das Dorfleben einfach nur langweilig. Jeder kannte jeden und die "große Stadt" Kassel erschien mir ganz weit weg. Tatsächlich war es mit dem Auto nur eine halbe Stunde, aber mit dem kleinen Bummelzug im 2-Stunden-Takt musste man schon fast Proviant einstecken. Von daher musste ich nicht lange überlegen, als irgendwann die Entscheidung anstand, ob ich zu "Herrn Mini-Rütter"  ins Ruhrgebiet ziehen würde. Mittlerweile lebe ich fast 2/3 meines Lebens im "Ruhrpott" und weiß heute die Vorzüge meiner alten Heimat mehr zu schätzen, wie damals.


Natur soweit das Auge reicht, ruhige Feldwege, der Habichtswald, mein geliebter Dörnberg... Auch das Leben mit Hund ist viel entspannter "auf dem Land" und ich könnte mir dort doch glatt auch einen zweiten Hund vorstellen, ach was sag ich -  drei Hunde! Gut ich gebe zu, jetzt übertreibe ich ein wenig, aber es ist wirklich ein großer Unterschied, ob man mit Hund im Ruhgebiet oder auf dem "Dorfe" lebt. Gubacca ist dort deutlicher entspannter und geht mit vielen Situationen viel gechillter um.




Die Umgebung hat aber nicht nur viel Natur, sondern auch kulturell einiges zu bieten. Die Sehenswürdigkeiten wie Schloss Wilhelmstal, der Bergpark Wilhelmshöhe oder den Herkules, kennt ihr ja bereits aus den Reisetagebüchern. In diesem Jahr findet in Kassel auch wieder die documenta statt, die weltweit als bedeutendste Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst gilt. Viele der documena Kunstwerke haben das Stadtbild von Kassel geprägt und können auch nach dem Ausstellungszeitraum besichtigt werden. Hierzu zählt zum Beispiel die Künstler-Nekropole im Naturpark Habichstwald, die auch mit Hund ein tolles Ausflugsziel ist.




Künstler-Nekropole im Naturpark Habichstwald

Die Künstler-Nekropole liegt wie ich finde, etwas versteckt am Stadtrand von Kassel in der Nähe vom Bergpark Wilhelmshöhe. Künstler*innen von "documenta-Rang" errichteten dort zu ihren Lebzeiten ihre eigenen Grabmäler und werden sich dort auch später bestatten lassen. 40 Grabmäler sollen in den kommenden Jahren rund um den Blauen See, der ein stillgelegter Steinbruch ist, entstehen.


Initiator des ungewöhnlichen Friedhofs war der Künstler Harry Kramer, der Teilnehmer der documenta III war.  Harry Kramers Vision bei der Künstler-Nekropole war kein elitärer Friedhof, sondern eine neue Form der Kunst im öffentlichen Raum. Er verzichtete jedoch selbst auf ein Grabmal und lies sich dort 1997 anonym bestatten. 



Der "Künstlerfriedhof" ist auf den ersten Blick wahrscheinlich kein typischer Ausflugstipp für einen tollen Spaziergang mit Hund.  Der ca. 1,5 km langer Wanderweg rund um den Blauen See ist aber gerade in den Sommermonaten schön zu laufen und die Kunstwerke erinnern an alles - aber nicht an Grabstätten. 



Viele der Kunstwerke bzw. Grabmäler sind mit hohen Gras umgeben, was auf mich zuerst schon fast ein bisschen ungepflegt wirkte. Aber gerade das war auch eine der Bedingungen für die Umsetzung der Nekropole. Der Wald durfte durch die Kunst nicht gestört werden und die Grabmäler sollen sich selbst überlassen bleiben. 


Spielraum (1995) - Werner Ruhnau †6.3.2015


Werner Ruhnau wünschte sich als Grabstätte ein Ort des Festes und Spieles und sein Vorbild war das Theater.


 Gernot Minke - Lehm-Kuppel (2021)



Die Kuppel ist begehbar und der Boden vertieft sich zur Mitte hin. Die fehlende horizontale Fläche soll das Gefühl der Geborgenheit verstärken und durch den besonderen Querschnitt des Gewölbes entsteht eine besondere Akustik.




Vogeltränke (1997) - Heinrich Brummack -  † 21.2.2018


Wasser bestimmt das Grabmal und lädt Vögel dazu ein aus der Granitschale zu trinken.




Momentum (2001) - Karl Oskar Blase † 27.12.2016


Das Auge das nach innen und nach außen gerichtet ist und dadurch den Geist und die Materie gleichermaßen wahrnimmt.





Abendtreffen an der Lichtung - Harrys Abschied (1998) - Blalla W. Hallmann


Blalla W. Hallman malte kurz vor seinem Tod dieses Bild für Harry Kramer und die Nekropole.


La vita corre rivo fluente (1992) - Rune Mields



Wie ein fließender Fluß verläuft das Leben. Die Mathematik wird für den Betrachter sichtbar, wenn er den Buchstaben folgt, die alle Primzahlen zwischen 1 und 100 markieren. 





Denk-Ort (2003) - Ugo Dossi


Die Bildmotive - Gesichter des Todes und Formen der Seele - sind mit Laser in den Stahl geschnitten. Die riesigen Stahlplatten sind begehbar und sollen auf den Besucher schützend wirken.


Auf der Unterseite der Erdoberfläche(1972/80/90) -  Timm Ulrichs


Das eigentliche Kunstwerk liegt hier im verborgenen. Der Künstler hat einen Körperabguss von sich aus Bronze in den Boden eingesenkt. Lediglich die Fußabdrücke seiner Hohlfigur sind für den Betrachter sichtbar. Nach seinem Tod wird die Hohlfigur die Asche Ulrichs aufnehmen.

 
Circuitus (2011)  - Gunter Demnig


Der Kreis wird geschlossen, wenn die Zeit gekommen ist. Das Kunstwerk hatte eine ursprüngliche Höhe von 2,70 Meter und hat das Funktionsprinzip einer EinlaufWasseruhr. Der 20 cm hohe Sockel als Pentagon ist aus aus Sandstein und der WannenZylinder aus Corten Stahl.


EN 6355 - Fritz Schwegler † 3.6.2014


Traditionell aber auch schon fast ein wenig ironisch wirkt der verschobene Sarkophag. Der Künstler legte eines seiner Urnotizbücher, in dem er den Sarkophag skizzierte und andere Kunstgegenstände vor seinem Tod als "Grabbeigabe" in seine Ruhestätte. Das Foto hat meine Schwester im vergangenen Winter gemacht. Irgendwie sind wir diesmal vorbeigelaufen und haben das Grab von Fritz Schwegler verpasst.

(Textquelle: www.kassel.de/kuenstler-nekropole)

Würde man Gubacca fragen, sein Highlight war bei unserem Ausflug garantiert der See  und er wäre zu gerne baden gegangen. So ganz traute ich dem braunen Wasser jedoch nicht und war  mir unsicher, ob der Blaue See sich überhaupt zum Schwimmen eignet. Wahrscheinlich waren meine Bedenken sogar überflüssig, denn der Blaue See lockte schon vor fast 100 Jahren zahlreiche Badegäste an...

Der blaue See

Der blaue See war schon in den 20er- Jahren des 20. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel und lockte viele Badegäste an. Der damalige Pächter, der Kyffhäuserbund, ließ dort eine Baracke erbauen, in der die Familien Kaffee kochen konnten und in der es Erfrischungsgetränke gab. Später wurde der See als „Luft- und Schwimmbad“ bekannt und war von 1950 bis 1959 eine Badeanstalt mit einer kleinen Bewirtschaftung. Heute ist der See schon fast in einen Dornröschenschlaf verfallen und der Wald erobert sich den Ort immer mehr zurück.
 


Nur ein kleines Stück vom Blauen See entfernt liegt das 1928 vom Naturheilverein Kassel gegründete „Luftbad Waldwiese“. 

Luftbad Waldwiese

Schon fast verborgen zwischen zwei Wiesen liegt die kleine Waldhütten-Siedlung, die um 1928 entstand. Heute sind davon noch 16 Hütten mit ihren dazugehörigen Schuppen und einem Wasserbecken erhalten geblieben. Die Siedlung gilt als sozialgeschichtliches Dokument der Naturheilbewegung und ist eine der letzten in ihrer Art. Bis heute kümmert der Verein „Luftbad Waldwiese e.V. sich um den Erhalt und die Pflege der Anlagen und organisiert dort auch regelmäßig Veranstaltungen.
 



Beim Betreten der Wiese fühlt man sich direkt in die Vergangenheit zurückversetzt. Auf der großen Naturwiese blühen heute selten gewordene Pflanzen wie der Teufelsabbiß und das gefleckte Knabenkraut, eine Orchideenart. Zwei Holzbänke mit Tisch laden zum Verweilen ein – ein wunderschöner Ort und ich wäre am liebsten in alle Ecken „gekrochen“ um die versteckten und zugewachsenen Hütten zu fotografieren. Ohne Strom und fließenden Wasser werden die Hütten auch heute noch von ein oder mehreren Familien genutzt und da geht die Privatsphäre vor. Aber zwei der idyllischen „Rückzugsorte“  und das "Kneipbecken" konnte ich dann doch noch mit gebührenden Abstand festhalten.




Ein Ausflug zum „Blauen See“ lohnt sich wie ihr seht wirklich! Parken könnt ihr kostenlos beim Wanderparkplatz „Bergfreiheit“. 


So sieht ein müder, aber mit sich und der Welt zufriedener Gubacca aus. Auch für ihn war die Woche im "Hessenlände" wieder richtig schön und er hat unsere Ausflüge sichtlich genossen.





Und wie immer verging die Zeit viel zu schnell - aber einen richtig schönen Marmeladenglas-Moment hatten wir auch noch am Dörnberg. Die Fotos davon gibt es im nächsten Blogbeitrag. 

  • Share:

You Might Also Like

0 Kommentare