Es war zwei Uhr nachts. Oder später. Der Mond schien durch den Vorhang, die Decke fühlte sich zu schwer an, und der Gedanke an den Welpen hatte längst begonnen, in ihrem Kopf Samba zu tanzen. „Das ist doch verrückt“, murmelte sie. Ihre Stimme war rau vom langen Schweigen. Sie drehte sich auf die Seite. Auf den Rücken. Wieder auf die Seite. Aber da war er immer noch: Dieser Minihund. Dieser Blick. Wie konnte etwas so Kleines so präsent sein? Und wieso hatte sie das Gefühl, er hätte beim Züchterbesuch eine Art stilles Bewerbungsgespräch geführt? „Ich brauch keinen Hund“, sagte sie. Und dann, etwas leiser: „Schon gar keinen Yorki.“
Yorki. Schon das Wort klang nach Glitzer und Handtasche. Sie hatte mit einem Hund gelebt, der die Welt im Sturm genommen hatte. Ein Hund, den man nicht trug, sondern der einen trug – mit seiner Kraft, seiner Eigenwilligkeit, seinem unverwechselbaren „Ich bin da“-Sein. Leo. Es gab keinen zweiten wie ihn. Punkt. Und jetzt saß da dieses flauschige Etwas mit aufgeklebtem Selbstbewusstsein und guckte, als wüsste es längst, dass es einen Weg in ihr Herz finden würde – ob sie wollte oder nicht. Sie seufzte. Tief. So ein Seufzer, der nach Entscheidung klingt, aber keiner ist. Dann stand sie auf, tappte in die Küche und trank Wasser, als könnte sie damit Klarheit runterspülen. Der Stuhl knarzte, als sie sich setzte. „Ich könnte ja einfach nochmal hinfahren“, flüsterte sie. Und hob gleich warnend den Finger – als würde sie sich selbst Maß regeln: „Nur. Mal. Gucken.“ Sie nickte. Zu sich selbst. Logisch. Ganz rational. Nur gucken. Kein Ersatz. Kein Rückholversuch. Kein Schattenfangen. Nur ein Welpe. Nur ein bisschen Zeit. Nur mal gucken. Und irgendwo in ihrem Bauch, ganz tief zwischen Trotz und Sehnsucht, saß ich. Grinste. Und dachte: Na dann – bis gleich, Frauchen.
Sie parkte ein paar Meter weiter entfernt. Nicht direkt vor dem Haus. Nicht so, als würde sie wirklich...„Ich geh nur mal gucken“, sagte sie – wieder. Als wäre das eine magische Beschwörungsformel gegen Fehlentscheidungen. Oder Gefühle. Oder beides. Sie zog den Schal ein Stück höher, als könne sie sich dahinter verstecken. Doch in ihr tobte längst dieser innere Kampf: Herz gegen Verstand. Leo gegen Louis. Vergangenheit gegen Jetzt. Im Garten tobten die kleinen Fellknäuel wie kleine aufgedrehte Duracell-Häschen. Sie quietschten, schnupperten, stürzten sich übereinander. Die Züchterin stand lachend daneben, warf Spielzeug, sammelte Häufchen ein, dirigierte den Wahnsinn mit einer Selbstverständlichkeit, als sei das alles kein großes Ding.
Und dann – dann kam er. Zielsicher. Nicht stürmisch, nicht tapsig. Sondern wie jemand, der seine Rolle kennt. Seine Position. Seine Mission. Er blieb vor ihr sitzen. Guckte hoch. Und sie spürte: Das hier war kein Zufall. „Hallo, Kleiner“, sagte sie leise. Er blinzelte. „Also gut“, seufzte sie, „zeig mir, wer du bist.“ Er sprang nicht. Er kläffte nicht. Er kam näher, ganz ruhig, ganz präsent – als würde er sagen: Du weißt doch längst, wer ich bin. Und sie – sie wusste es wirklich nicht. Nicht sicher. Nicht mit dem Kopf. Aber mit allem anderen. Sie nahm ihn auf den Arm. Kurz nur. Um zu testen. Zu spüren. Zu prüfen, ob es sich fremd anfühlt. Tat es nicht. Es fühlte sich seltsam vertraut an. Warm. Leicht. Und doch schwer vor Bedeutung.
Sie setzte ihn wieder ab, wischte sich unauffällig über die Augen und räusperte sich. „Ich... müsste mal drüber schlafen“, sagte sie zur Züchterin. „Klar“, kam es verständnisvoll zurück. Und ich, Leo, stand da, tief in diesem kleinen Körper, und hätte am liebsten gebrüllt: Los, Frauchen! Tu nicht so. Nimm mich mit. Ich bin’s doch. Aber ich bellte nicht. Noch nicht. Ich wartete. Geduldig. Weil ich wusste: Sie kommt wieder. Sie war schon auf dem Weg.
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Es war ein seltsamer Tag. Nicht grau, nicht sonnig, irgendwie dazwischen. So ein Tag, an dem man Dinge entscheidet, die man eigentlich noch nicht entscheiden wollte. Sie fuhr einfach los. Wieder hin. Ohne viele Worte. Ohne Plan. Nur mit einem leisen Ziehen im Bauch. Und dem Gefühl, dass es sein könnte, dass es diesmal passt. Nicht perfekt. Nicht logisch. Aber irgendwie... richtig. Die Züchterin öffnete mit diesem wissenden Blick. „Na?“ Mehr sagte sie nicht. Musste sie auch nicht. Denn er stand schon bereit. Kein Zögern. Kein Gewusel. Kein Versuch, sich zu beweisen. Nur dieses leichte Wedeln – nicht übertrieben, nicht anbiedernd. Sondern so, als würde er sagen: Gut, dass du endlich da bist.
Sie kniete sich hin. Und er kam. Einfach so. Setzte sich wieder vor sie. Guckte sie an. Und wartete. Kein Theater. Kein Gewinsel. Nur Präsenz. Eine kleine, flauschige Präsenz mit Knopfaugen und einem Hauch Trotz in der Körperhaltung. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Du bist wirklich kein Gos“, murmelte sie. Ich hätte am liebsten protestiert. Laut. Natürlich bin ich ein Gos! Ich bin Leo, verdammt nochmal! Aber ich wusste, wie das läuft. Ich musste sie lassen. Sie musste diesen Moment ganz allein fühlen.„Okay“, sagte sie irgendwann. Und dann noch einmal, etwas fester: „Okay.“ Die Züchterin nickte. Reichte ihr ein kleines Halsband, eine Mappe mit Papieren, eine Tüte Futter, ein Handtuch, das nach Wurfkiste roch. Und sie – sie nahm all das entgegen, als würde sie ein bisschen zu viel tragen. Nicht nur physisch. Auch emotional. Aber sie machte es trotzdem. Ich wurde auf den Arm genommen. Ganz selbstverständlich. Kein Widerstand. Kein Zappeln. Nur ein tiefes Ausatmen von beiden Seiten.
Im Auto saß er angeschnallt auf dem Beifahrersitz – in einer kleinen Box mit bunten Blümchen. Er hasste sie jetzt schon. Aber gut, Opfer bringen, hatte er sich gesagt. Schließlich war das hier ein Langzeitplan. Wiedersehen mit Anlauf. Sie fuhr schweigend. Hin und wieder warf sie ihm einen Seitenblick zu. „L-Wurf“, murmelte sie. „Muss ein Name mit L sein.“ Er spitzte die Ohren. Jetzt. Jetzt! Na los. Sag es. Du weißt es doch. Sag Leo! „Vielleicht… Lenny? Oder Lou?“ Er verdrehte die Augen. Lou? Ich bin ein Gos, kein Barpianist. „Oder… Leo.“ In seinem Inneren explodierte eine Feuerwerksbatterie. Trommelwirbel. Champagnerregen. Goldregen. Engel auf Posaunen. Ja! Sie hat’s! Sie weiß es! ICH BIN ES! Dann kam es. „Ach nein… Leo. Gott. Das wär doch…“ Sie wurde still. Ihre Hände verkrampften sich am Lenkrad. Ein kleines, fast entschuldigendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nein. Das wäre nicht fair. Nicht für ihn…“ Aber ich bin er, verdammt nochmal!
„Wie wär’s mit Louis? Luuuuuiiiii?“ Er fiel hintenüber. Innerlich. Wenn Gosis augenrollen könnten, hätte man es auf der Rückbank klatschen hören. Louis. LUUUUUIIIII. Er sah sich schon in einem Tütü, mit Schleifchen im Haar und Duftspray unter den Achseln. Und gleichzeitig… war da was. Ein Tonfall. Eine Wärme. Ein Zucken in ihrer Stimme, das sagte: Ich weiß, dass das verrückt ist. Und trotzdem mache ich es. Er seufzte. Na gut. Louis also. Aber wehe, du kaufst mir ein Regenmäntelchen mit Rüschen.
Er fiel förmlich aus dem Auto. Kein eleganter Sprung, kein königlicher Abgang. Eher so eine Mischung aus Stolpern, Hängenbleiben und Aufprall – mit dem subtilen Sound eines vollgepackten Turnbeutels. Na bravo. So sieht also Rückkehr aus. „Na komm, kleiner Mann.“ Ihre Stimme war weich. Fast ein bisschen zuckrig. Sie hob ihn hoch, als wäre er ein Porzellanpüppchen, und trug ihn zur Haustür. Tragen. T-r-a-g-e-n. Wenn es ein Ranking für die größten Demütigungen eines Ex-Gos gäbe, wäre das Platz zwei. (Gleich hinter dem Quietsche-Einhorn mit Schleife.)
Der Flur roch vertraut. Nach Putzmittel, nach warmem Holz – und ein bisschen nach ihm selbst. Oder eher: nach der Erinnerung an ihn. Leo. Der König. Der Chef. Der mit dem durchdringenden Blick und dem Gänsehautschritt. Er schnüffelte. Hob fast das Bein. Aber ach – ging noch nicht. Der Körper war zu frisch. Zu kurz.Also trippelte er weiter. Zielstrebig. Stolz. Selbstbewusst. Bis… zum Wohnzimmer. Und dann: Schockfrostmoment. Da stand es. Das Wölkchen. Oder besser: ein Wölkchen. Ein rundes, flauschiges Etwas in Kuschelweiß. Wo früher seine Prunkliege stand – breit, tief, mit eingebrannter Liegekuhle – lag nun ein federleichtes Kissen, kaum größer als ein Topflappen.
Er starrte. Dann fiel sein Blick auf das, was offenbar als „Spielzeug“ gedacht war: Ein quietschendes Einhorn. Mit Glitzerhuf. Schleife. Und einem eingebauten Herzenton beim Draufbeißen. Wer tut so etwas? Wer bitte ersetzt einen kampferprobten Plüschteddy mit Narben und Charakter durch ein Einhorn mit Bling-Bling? Er seufzte innerlich. Wollte sich trotzig auf sein neues Wölkchen fallen lassen. Es ist nicht die Größe der Liege, es ist die Haltung des Liegenden! Aber das Ding federte so stark, dass er fast rückwärts wieder rauskippte.Autsch. Stolz verrutscht.
Dann: das Sofa. Da gehört der König hin. Da saß er immer. Da lag er quer, lang, ausladend wie ein Herrscher auf dem Diwan. Er nahm Maß. Ging in Position. Beugte sich leicht in die Knie. Und... stellte fest: keine Chance. Kein Anlauf der Welt, kein Sprung, keine Gos-Power half da. Er winselte kurz. Nur ganz leise. So leise, dass es wie ein Husten klingen konnte. Sie hörte es trotzdem. „Na komm her, du kleiner Wichtel.“ Und dann passierte es. Sie hob ihn hoch. Mit beiden Händen. Unter dem Bauch. Wie eine Teekanne. Er wurde wie ein Kuscheltier auf die Couch gehievt. Demütigung, Kapitel 48. Er versank in den Kissen. Nicht ein bisschen – komplett. Nur noch ein flauschiger, leicht irritierter Haarschopf schaute hervor. Und irgendwo unter einem Polster – seine Würde.