Der Tag begann wie immer – und doch anders. Nicht mehr leer, aber auch nicht leicht.
Sie lag wach, lauschte dem kleinen Atemzug neben sich. So leise, dass man ihn fast verpasste. Kein Wälzen, kein Grunzen, kein genervtes Seufzen von Leo. Nur dieses feine, flauschige Dasein in XS. Sie stand auf. Langsam. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken. Er aber hob den Kopf, reckte sich – wie selbstverständlich –, dann fiel er fast wieder um, weil er sich mit seinem zu kurzen Hinterbein verhakt hatte. Sie lächelte. Ein echtes Lächeln.
Beim Kaffeekochen passierte es. Wie automatisch wanderte ihr Blick zur Garderobe.
Da hing es: das blaue Bändchen. Kein Gewicht. Kein Griff wie ein Handlauf in stürmischen Zeiten. Nur dieses flatterige Ding. Sie schluckte. Aber dann hörte sie ein leises Tap, Tap, Tap. Louis hatte sich vor den Napf gestellt. Starrte hinein wie auf einen Ozean. Dann streckte er zaghaft die Zunge hinein – und prustete sofort los, weil er mit der Schnauze halb unter Wasser geriet. Sie musste lachen. Und gleichzeitig hatte sie Tränen in den Augen. Es war anders. Alles. Aber es war auch etwas. Und genau dieses „Etwas“ stand plötzlich vor ihr, schüttelte sich, nieste kurz – und tappte dann los. Richtung Tür. Als hätte er einen Plan. Sie nahm die Leine. Also, das, was als Leine verkauft wurde. Eigentlich war es ein dünnes Band mit Karabiner, das sie an ein Stofftier hätte nähen können. Und doch fühlte es sich irgendwie… richtig an.
Die Sache mit den Größen
Später, in der Zoohandlung, stand sie vor dem Regal wie früher – nur dass ihre Hand jetzt nicht nach Farben griff, sondern nach Größen. Erst L. Dann M. Dann S. Am Ende hielt sie ein XS-Geschirr in der Hand, das eher an ein Bikiniteil erinnerte.. „Das ist doch für Katzen“, sagte sie halblaut. Die Verkäuferin nickte. „Genau. Aber bei Yorkis geht das in dem Alter gut.“Yorkis. Sie hätte nie gedacht, dass dieses Wort mal ihr Thema wird. Neben ihr griff ein Mann nach einem Brustgeschirr in Größe XXL – für einen Bernhardiner, der neben ihm sabberte wie ein laufender Gartenschlauch. Sie hielt dagegen das winzige XS-Ding in der Hand. Zwei Welten. Und doch: Zwei Hunde. Zwei Leben.
Auch bei der Wahl der Hundeschule war es anders. Früher: „Ich muss nur vorwarnen, er ist ein bisschen wild … der spielt manchmal etwas grob.“ Jetzt: „Sind die anderen denn auch so klein? Nicht, dass er… also… überrannt wird?“ Sie wusste nicht, was seltsamer war: dass sie sich über zu große Schäferhundwelpen sorgte – oder dass sie sich wirklich sorgte. Um ihn. Um Louis. Früher war Leo mit dem Arsch zuerst in die Welpengruppe rein. Hat sich gerempelt, gerauft, war am Ende dreckig, stolz, selig. Jetzt hatte sie Sorge, Louis könnte einfach nicht mitkommen. Zu klein. Zu zart. Zu leise. Und trotzdem: Wenn er dann mit gesträubtem Rückenfell und vor Stolz platzendem Brustkorb einen Ball jagte, der doppelt so groß war wie er selbst – dann musste sie sich eingestehen, dass da doch etwas war. Ein kleiner Kern. Leo? Vielleicht. Oder einfach ein verdammt mutiger Luis.
Welpenschule, erster Tag
Frauchen stand mit Louis auf dem Arm vor dem Eingang. Schon von draußen hörte man das Bellen, Quieken, Toben. Große Tatzen auf Rasen, Welpengejohle. Sie schluckte. Louis auch. Nur nicht vor Nervosität, sondern weil er gerade an einer ihrer Jackenschnüre lutschte. Die Trainerin kam lächelnd auf sie zu. „Und das ist der kleine…?“ „Louis“, sagte Frauchen. Beinahe ohne zu zögern. Beinahe. „Och, ein ganz Süßer!“ Frauchen nickte. Und dachte: Süß war früher nicht mein Thema.
Dann kam der Moment der Wahrheit. Sie setzte ihn ab. Louis stand da. Zwei Sekunden lang. Dann explodierte er. Mit einem ungefilterten Krawumm! warf er sich vorwärts – direkt in Richtung eines goldigen Jack-Russel-Welpen, der ihn mit hochgezogener Augenbraue ansah, als käme da ein aufgedrehter Legostein angeschossen. Louis sprang, bellte, kugelte, stieß sich die Nase, prustete, rappelte sich wieder auf und schmetterte sich in einen Haufen Spielzeug wie ein olympischer Trampolinspringer.
Der Jack Russel drehte sich um. Langsam. Und legte sich seufzend in den Schatten. Frauchen starrte. Die Trainerin lächelte. „Na, der hat ja Temperament.“ Temperament. Sie erinnerte sich, wie Leo in der Welpengruppe mit einem kleinen Ridgeback kollidiert war – und niemand mehr wusste, wem welches Ohr gehörte. Damals hatte sie sich gewünscht, dass er weniger Temperament hätte. Jetzt wünschte sie sich, dass Louis nicht gleich untergeht. Sie beobachtete, wie er wie ein wildgewordenes Sofakissen durch den Parcours jagte, sich in einen Ball verbiss und anschließend in ein viel zu großes Tunnelspielzeug einbog – und kurzzeitig nicht mehr rausfand. Als er hinten wieder herauspurzelte, war er über und über mit Sand bedeckt. Er schüttelte sich empört, als hätte ihn jemand beleidigt. Dann marschierte er wieder los. Ohne Zweifel. Ohne Pause. Frauchen lachte leise. Und da war sie wieder, diese Mischung aus Rührung, Zweifel, Traurigkeit und Hoffnung. Denn irgendwo zwischen Tunnel, Ball und Minisprung stand nicht nur Louis. Da tauchte auch Leo auf. Für einen Wimpernschlag.
Auf der Heimfahrt war es still im Auto. Also – so still, wie es eben sein konnte, wenn ein Minihund auf dem Beifahrersitz zusammengesackt lag wie ein durchgekauter Plüschknochen und dabei leise vor sich hinschnaufte, als würde er mit jeder Ausatmung ein bisschen Welpenabenteuer verarbeiten. Louis war eingeschlafen, noch während sie den Parkplatz der Hundeschule verließ. Seine Ohren zuckten leicht. Wahrscheinlich träumte er gerade, wie er den Labrador endgültig von der Matte schubste oder dem Riesenschnauzer gezeigt hatte, wie man sich richtig in den Sand wälzt. Frauchen lächelte, dann wurde sie wieder still. Ihre Hände lagen locker am Lenkrad. Der Blick geradeaus – und trotzdem ganz woanders. Sie dachte an Leo. An die Heimfahrten mit ihm. Wie er sich früher voller Energie auf dem Rücksitz breitmachte, als sei das ganze Auto sein Thron. Wie sie ihn ermahnt hatte, die Pfoten vom Fenster zu lassen. Wie sie ins Leere gegriffen hatte, wenn sie ihn suchte – in den letzten Wochen. Und wie es jetzt war. Jetzt lag da ein anderer Körper. Kleiner. Wärmer. Weicher. Und doch schien irgendetwas an ihm zu sagen: Ich bin da. Auf meine Art. Wieder.
Sie bremste an einer roten Ampel. Schaute hinüber. Er zuckte im Schlaf. Streckte sich ein bisschen. Und murmelte ein leises, vollkommen übertriebenes Mmpf, das verdächtig nach Gos klang. Sie lachte. Einmal. Kurz. Dann sah sie nach vorn. Und flüsterte: „Leo… Louis… ihr macht’s mir nicht leicht.“ Und plötzlich war es okay, dass sie beim Fressnapf fast das XL-Geschirr gekauft hätte. Dass sie gestern minutenlang vor der Garderobe stand und die große Lederleine suchte. Dass sie nachts, wenn Louis fiepte, fast „Ich komme, Leo“ gesagt hätte. Und dass es sie mehr berührte, als sie zugeben wollte, wenn der kleine Körper sich an ihr Bein schmiegte, als wäre sie das größte, sicherste Ding auf der Welt. Die Ampel wurde grün.Sie fuhr weiter. Und irgendwo auf der Rückbank, in einem imaginären Winkel ihres Herzens, lag ein alter Gos. Still. Stolz. Und zufrieden. So, wie er es immer war – nur eben jetzt ein bisschen leiser.
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Bine & Gubacca