Der Gos, der die Wolken hütete

Oktober 20, 2025

Manchmal, wenn im Sommer die Wolken tief über den Bergen hängen, erzählen die Leute im Tal von einem Hund. Kein gewöhnlicher, sagen sie, sondern einer, der den Himmel hütete. Keiner weiß, ob er je einem Menschen gehörte. Manche behaupten, er sei einfach eines Tages aufgetaucht, andere, er habe nie wirklich gelebt. Aber jedes Mal, wenn eine besonders dichte Wolke sich löst und allein über den Himmel zieht, hebt jemand den Kopf, lächelt und sagt: „Da zieht er wieder, der Wolkenhüter.“


Der Ruf des Himmels

Es war einer dieser Tage, an denen der Wind das Gras in Wellen legte und die Berge so taten, als würden sie sich im Tal spiegeln. Der alte Gos stand mitten auf dem Hang, ein zerzauster König ohne Krone. Die Schafe unten auf der Weide waren längst gezählt, aber er blieb oben. Sein Blick klebte am Himmel.

„Na, hast du wieder was gefunden da oben?“, rief die Sennerin aus der Hütte. Der Hund bellte nicht. Er hob nur leicht den Kopf, als hätte sie ihn bei etwas Intimem erwischt. Über ihm trieben Wolken — große, wollige, störrische Gebilde. Manche rund und brav, andere zerrissen, unruhig. Wie früher, dachte er. Wie meine Herde. Seit Wochen war er unruhig. Kein richtiger Auftrag mehr, keine Schafe, die ihn brauchten. Der Mensch redete von „Rente“ und „altem Herrn“, als sei das ein Lob. Aber ein Hütehund ohne Herde ist wie ein Lied ohne Takt.

An diesem Nachmittag aber passierte etwas. Eine Wolke löste sich vom Schwarm und trieb, ganz eigenwillig, in eine andere Richtung. Der Gos spitzte die Ohren — Reflex. Abseitslaufen. Wie immer dieselbe Ziege. Er folgte ihr mit dem Blick, dann mit den Pfoten, dann mit dem ganzen Körper. Erst ein paar Schritte, dann zehn, dann den Hang hinab. Die Sennerin sah ihm kopfschüttelnd nach. „Du spinnst, Bursche!“ Er bellte nur einmal, kurz. Nein. Ich arbeite.

Und so begann es. Kein Mensch wusste, dass ein alter Gos d’Atura an diesem Tag beschlossen hatte, den Himmel zu hüten. Aber oben, irgendwo zwischen Grau und Gold, lächelte vielleicht jemand.




Der Maler im Tal

Am Fuß des Berges lag ein kleines Dorf, das sich an die Erde schmiegte wie ein altes Schaf an seine Herde. Die Menschen dort waren freundlich, aber ein bisschen müde vom Alltag. Nur der Maler unten am Platz machte keinen Hehl daraus, dass er mit der Welt im Streit lag.

Er saß jeden Tag auf demselben Hocker, vor einer weißen Leinwand, und fluchte in allen bekannten Sprachen. Meist gegen den Himmel, manchmal gegen sich, manchmal gegen beides. „In dieser Gegend malt man sich die Seele aus dem Leib, und am Ende sagen sie, es sieht nett aus! Nett! Ich will kein Nett! Ich will Sturm!“

An genau diesem Tag tappte der Gos über den Platz. Das Fell noch feucht vom Morgentau, die Augen auf die Wolken gerichtet. Er blieb direkt vor der Leinwand stehen. Keine Begrüßung, kein Schwanzwedeln. Nur Starren. „Na toll. Jetzt gucken mir schon Hunde beim Scheitern zu.“ Der Gos rührte sich nicht. Er blinzelte nur langsam. Dann schaute er nach oben. „Was? Da oben? Ja, ich seh’s. Weiß auf Blau. Sehr originell.“ Der Hund bellte nicht, aber sein Blick sagte deutlich: Guck genauer.

Der Maler folgte seinem Blick, genervt, und plötzlich -  „Verdammt… das sieht wirklich aus wie ein Schaf!“ Der Gos setzte sich, zufrieden. Der Maler griff zum Pinsel. Nach Wochen zum ersten Mal. „Na schön, du flauschiger Kunstkritiker. Dann mal ich eben deine Schäfchen da oben.“ Er mischte Grau mit Weiß, tanzte mit dem Pinsel über die Fläche. Der Gos sah ihm zu, schwieg, wie ein Lehrer, der prüft, ob der Schüler’s kapiert.

Stunden später stand das Bild da: Wolken, Licht, Bewegung. Der Maler atmete tief. „Manchmal“, murmelte er, „brauchst du wohl jemanden, der an Unsinn glaubt, damit du wieder malen kannst.“ Der Gos gähnte, stand auf und trottete weiter.„Ja, ja, schon gut! Lauf nur, Prophet des Nebels!“ rief der Maler ihm hinterher. Oben am Hang bellte der Hund kurz, als Antwort. Vielleicht ein Lachen.

Und irgendwo im Dorf sagte eine Frau, als sie das Bild später sah: „Das sieht gar nicht nett aus. Das lebt.“


Die Bäuerin und der Fremde mit dem Fell

Der Gos kam im Morgengrauen. Der Himmel hing tief, die Welt roch nach nasser Erde und altem Stroh. Auf einem Hof am Rand des Tals klapperte eine Frau mit Eimern. Sie hatte die Schultern einer, die nie aufgibt. Breit, stark, und ein bisschen müde vom Tragen. Als sie den Hund sah, blieb sie stehen. „Na super. Noch einer, der meint, ich wär ein Gnadenhof.“

Der Gos setzte sich mitten auf den Weg. Weder drohend noch bittend – einfach da. Sie stapfte näher, musterte ihn. „Alt bist du. Und dreckig. Und du riechst nach… Himmel, glaub ich.“ Er blinzelte. „Na, wenigstens widersprichst du nicht.“ Sie ging weiter zum Stall, der Hund hinterher, lautlos wie ein Schatten. „Du kannst gern mitkommen“, murmelte sie, „aber ich fütter keine Tagträumer.“

Am Mittag fand sie ihn im Garten – regungslos, die Nase im Wind. „Wenn du wartest, dass die Würste vom Himmel fallen: Das passiert hier nur sonntags.“ Der Gos drehte den Kopf, als hätte er’s verstanden. Am dritten Tag gab sie auf. „Also gut. Ein bisschen Milch. Aber das heißt noch lange nicht, dass du bleibst.“ Er trank, schmatzend. Sie nickte. „So reden wir miteinander. Lautlos und mit vollem Maul.“

Abends saß sie auf der Bank, er zu ihren Füßen. Der Himmel brannte in Apricot und Lila. „Früher,“ sagte sie, „hat er da oben immer die Wolken gezählt. Mein Mann. Sagte, wenn sie Schäfchen heißen, dann müssen’s auch gezählt werden. Ich hab ihn ausgelacht.“ Der Gos hob kurz den Kopf, als lausche er einem alten Befehl. „Manchmal denk ich, er schickt mir Zeichen. Aber dann denk ich wieder, Unsinn. Und dann…“ Sie stoppte, sah in die Wolken, die gerade eine Lücke formten. „Ach was weiß ich.“ Der Hund lehnte sich gegen ihr Bein. Schwer, warm, einfach da. Sie lächelte zum ersten Mal seit Langem. „Na gut, Wolkenhüter. Morgen ziehst du weiter. Aber heute bleibst du.“


Und am nächsten Morgen, als sie vor die Tür trat, war er fort. Nur ein Abdruck blieb im feuchten Boden, und über dem Dach hing eine Wolke, die aussah wie zwei alte Gestalten auf einer Bank.


Der Junge am Fluss

Der Fluss wusste, wie man schweigt. Er rauschte nicht, er erzählte nicht. Er lief einfach, stetig, als wolle er niemandem wehtun. Am Ufer saß ein Junge. Klein, dünn, das Gesicht zu ernst für sein Alter. Neben ihm lag ein abgenutzter Stock, und ab und zu warf er Steine ins Wasser — immer drei hintereinander, nie zwei, nie vier. Seit sein Vater fort war, redete er nicht mehr. Die Mutter sagte, Worte seien ihm wohl mit ins Grab gefallen.

An diesem Tag kam der Hund. Aus dem Nichts, wie Wolken eben kommen. Er tappte über den Kies, blieb stehen, setzte sich — genau in die Wurzelmulde neben dem Jungen. Keine Geste, kein Laut. Nur Stille, die sich anfühlte wie Gesellschaft. Der Junge sah kurz hinüber. „Du gehörst jemandem,“ hätte er fast gesagt. Aber er sagte nichts. Der Gos schnupperte, schnaubte, legte sich hin. Sie saßen so, lange. Der Junge warf wieder Steine. Eins. Zwei. Drei. Beim dritten bellte der Hund. Der Junge runzelte die Stirn, warf wieder. Eins. Zwei. Drei. Der Hund bellte wieder.

Beim fünften Durchgang musste der Junge lachen. Ganz kurz, heiser. Ein Laut, kein Wort. Aber der erste seit Monaten. Der Hund sprang auf, stolz, als hätte er ein Schaf gefunden. Er lief am Ufer entlang, starrte ins Wasser — dort spiegelte sich eine Wolke, rund und weiß. Der Junge folgte ihm, zögernd, dann neugierig. „Da ist nichts,“ flüsterte er. Der Gos bellte. „Doch, ich seh’s ja… ein Schaf.“ Er erschrak über seine eigene Stimme. Die Worte klangen fremd, rostig, aber sie waren da. Der Hund sah ihn an — einfach nur da, als hätte er genau darauf gewartet. Sie liefen noch ein Stück, der Junge redete leise, abgehackt. Über den Fluss, über seinen Vater, über gar nichts Bestimmtes. Der Hund hörte zu, wie nur Tiere zuhören: ganz.

Am Abend legte sich der Junge ins Gras. „Ich kann wieder reden,“ sagte er. „Aber du sagst’s keinem, ja?“ Der Hund legte die Schnauze auf seine Hand. Am nächsten Morgen war er fort. Aber im feuchten Sand standen noch seine Pfoten — wie ein Satz ohne Punkt. Und als der Junge nach oben sah, zog über den Himmel eine Wolke, die aussah wie zwei, die nebeneinander gingen: ein Mensch und ein Hund.


Der Mann mit dem Regenschirm

Der Gos mochte Städte nicht. Zu viele Füße, zu wenig Sinn. Aber an diesem Tag folgte er einer besonders zerrissenen Wolke, und ehe er’s merkte, war er mittendrin im Lärm. Autos brummten, Menschen rannten, niemand sah nach oben. Es regnete schräg, nicht richtig nass.  Der Hund trottete über einen Platz, der nach nasser Zeitung roch, und blieb vor einem Mann mit Regenschirm stehen. Der Schirm war schwarz, der Anzug grau, und das Gesicht irgendwo dazwischen.

„Was denn?“ knurrte der Mann. „Ich hab nichts zu essen.“ Der Gos schüttelte sich demonstrativ, spritzte Tropfen bis an die Hose des Mannes. „Fantastisch. Jetzt bin ich auch noch gepunktet.“ Der Hund blickte zum Himmel. „Ja, ja, ich weiß. Wolken. Ich hab Termine.“ Der Gos blieb. Starr. „Hör zu, du wandelnde Fußmatte – ich bin in Eile.“ Dann passierte das, womit keiner rechnete: der Hund stieß den Mann leicht an, ganz gezielt. Der Schirm kippte, fiel um. Und plötzlich standen beide im Regen.

Der Mann sog hörbar die Luft ein, wollte fluchen – aber da kam eine Böe, riss den Regen quer durch die Straße, und irgendwo zwischen Tropfen und Wind war für einen Moment alles still. Die Menschen hetzten weiter. Nur er stand da, nass bis auf die Haut, und der Hund schaute hoch. Über ihnen hing eine Wolke, die aussah wie ein Segel. Der Mann musste lachen. Erst kurz, dann richtig. Es klang, als hätte jemand Rost gelöst. „Na schön“, sagte er, „du hast gewonnen. Eine Minute. Dann hol ich mir meinen Schirm zurück.“ Der Hund blinzelte zufrieden und setzte sich.

Als die Minute vorbei war, war der Hund verschwunden. Nur der Schirm blieb – halb geöffnet, halb geschlossen. Der Mann steckte ihn unter den Arm, ging los, blieb nach zehn Schritten wieder stehen. Er sah nach oben. Zum ersten Mal seit Jahren. Und da grinste er. Einfach so, mitten im Regen.


Der Himmel ruft…

Der Weg hinauf war steinig, aber der Gos kannte keine Abkürzungen. Nur Richtung. Er hatte das Dorf, die Felder, den Fluss, den Regen hinter sich gelassen. Vor ihm: Felsen, Geruch nach Moos, und der Himmel, nah genug, dass man ihn fast anfassen konnte. Oben wartete niemand. Aber es fühlte sich an, als wäre er erwartet worden.

Er setzte sich auf den höchsten Punkt, wo die Erde schmal wird und der Himmel groß. Unter ihm lagen alle Wege, die er gegangen war – wie Furchen in einer alten Hand. Er sah hinauf. Wolken, überall. Dicke, fliehende, stille. Eine Herde. Seine Herde. Der Wind legte sich. Und da stand plötzlich der Junge. Barfuß, gewachsen, aber eindeutig derselbe. In der Hand hielt er einen Pinsel – vom Maler, sagte er später. „Ich hab dich gesucht.“

Der Hund legte den Kopf schief, dann auf seine Knie. Der Junge lachte leise. „Ich weiß, du musst gleich weiter. Aber ich wollte’s sagen, bevor du’s vergisst: Ich kann reden. Ich male. Ich lache. Und Mama sagt, das kommt vom Wetter. Ich glaube, es kommt von dir.“ Der Gos schloss die Augen. Vielleicht war’s nur der Wind, vielleicht auch etwas Tieferes. Über ihnen zogen die Wolken, langsam, ruhig.

„Da sind sie“, flüsterte der Junge. „Deine Schafe.“ Der Hund hob kurz den Kopf, als wollte er zählen. Dann ließ er ihn wieder sinken. Der Junge blieb, bis der Himmel rot wurde. Dann stand er auf. „Mach’s gut, Wolkenhüter.“ Am Morgen war nur noch Wind. Und im ersten Licht des Tages sah der Junge eine neue Wolke, rund und zottelig, die sich über den Grat schob. Sie trieb voran, ruhig, sicher, als wüsste sie genau, wohin sie gehörte.



Nach dem Ende

Später, viele Jahre später, hing im kleinen Dorfcafé ein Bild. Ein Junge hatte es gemalt: ein Hügel, ein Hund, darüber ein Himmel voller Schafe. Darunter stand kein Name, nur ein Satz:

„Manche Herden gehören zum Himmel.“

Und wenn man ganz genau hinsah, konnte man in einer der Wolken eine zottelige Gestalt erkennen — halb Hund, halb Wind, ganz Frieden.


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