Manche Dinge muss man einfach hinnehmen. Zum Beispiel, dass man plötzlich Louis heißt. Oder dass man getragen wird wie ein Brokkoli im Biobeutel. Oder – ganz aktuell – dass man auf dem Sofa nur noch mit Hilfe landet. Gut, sie nannte es liebevoll „hochheben“, aber für ihn war es eine Frage der Ehre. Und seiner Bandscheiben. Aber das war alles nichts gegen das, was jetzt kam. Der Napf des Grauens: Er war durstig. Also so richtig. Dieser neue Körper verlor scheinbar durch bloßes Atmen Flüssigkeit – vermutlich durchs Fell. Es war ja auch überall. Augen, Ohren, Pfoten – sogar zwischen den Zehen. Früher hat Wasser mich gesucht. Jetzt muss ich’s jagen. Er trippelte los. Richtung Küche. Ziel: der Napf. Und da stand er auch schon. Edelstahl. Altbekannt. Gut geformt. Elegant. Nur … auf Höhe von Hüfthochhaus.
Er blieb stehen. Starrte. Schluckte trocken. Wollt ihr mich veralbern? Ist das ein Test? Oder ein Denkmal? Der Napf war da, wo er immer war. Nur eben für einen Gos. Und er war voll. Funkelnd. Kühl. Und komplett unerreichbar. Er streckte den Hals. Stellte sich auf die Hinterbeine. Machte sich lang wie ein Ballettmäuschen auf Diät. Keine Chance. Dann ein Versuch mit Anlauf. Er sprang – und schlug mit der Stirn gegen den Rand. Klong. Wasser schwappte in Zeitlupe über den Rand. Eine kleine Sintflut ergoss sich über den Küchenboden. Er stand da. Patschnass. Und beleidigt. Früher hättest du das Ding einfach leergezogen und dann demonstrativ noch den Boden geleckt. Jetzt? Jetzt bist du ein wassergetränkter Wischmopp mit Krönchen.
In diesem Moment kam sie in die Küche. „Oh nein, hast du Durst, kleiner Mann? Na warte, ich hol dir schnell was anderes.“ Er rollte mit den Augen. Innerlich. Sie kramte. Klapperte. Und dann – kam sie mit einem Napf. Ein Winzling. Hellblau. Mit aufgedrucktem Knochen. Er hatte früher Näpfe, in denen man kleine Hunde hätte baden können. Und jetzt das hier? Sie stellte ihn hin. Er trank. Was blieb ihm übrig. Aber mit jedem Schluck schwor er sich: Eines Tages, Louis. Eines Tages sitzt du wieder am großen Napf.
Das Königreich der Schrumpfversion
Er war bereit. Der Napf hatte ihn gedemütigt, das Sofa beleidigt – aber nun war es Zeit für sein Terrain. Draußen. Gras unter den Pfoten, Wind im Fell, große Gesten auf weiter Flur. Sie öffnete die Terrassentür. „Na los, Luuuuuiiiiii – ab in den Garten!“ Er marschierte los. Oder… er wollte. Der Türrahmen kam ihm höher vor als sonst. Die Terrassenstufe ein kleines Gebirge. Er hielt kurz inne. Ach komm. Du bist Leo. Der, der früher durch kniehohe Brennnesseln spaziert ist wie ein Panzer mit Charme. Ein Sprung. Ein Quietschen. Er landete bäuchlings. Nicht schmerzhaft, aber würdelos. Sie hob ihn hoch. „Hoppala, kleiner Kerl – das üben wir noch.“ Er funkelte. Ich habe mal einem Wildschwein die Meinung gebellt. Jetzt trag mich halt noch in die Wanne und föhn mir das Fell mit Lavendelduft, ja? Dann stand er im Garten. Und alles war… gigantisch. Das Gras – ein Dschungel. Der Gartenschlauch – eine Python. Die Hortensien – eine Festung. Er tappte los. Alles war wie früher – und doch nicht. Der Maulwurfshügel, auf dem er sich sonst königlich sonnte, war jetzt ein unüberwindbarer Aussichtspunkt. Der Garten war geschrumpft – und gleichzeitig riesig. Ein paradoxes Paralleluniversum.
Er hob das Bein. Also, er wollte es heben. Aber sein Körper wusste nichts von diesem Plan. Der blieb einfach im Hock-Modus. Ach stimmt ja… das kommt später. Mit Stolz. Und Standbein. Er seufzte. Suchte sich einen Halm. Pinkelte. Und wurde dabei von einem Marienkäfer attackiert. Er floh. Also so weit, wie seine Beine es zuließen. Was eher nach tänzelndem Rückzug aussah. Sie lachte. „Na du Entdecker?“ Er blieb stehen. Warf einen stolzen Blick über die Wiese. Ich war einmal König hier draußen. Und vielleicht – ganz vielleicht – werde ich es wieder. Auch wenn ich vorher den Gartenschlauch verjagen muss.
Besuch – oder: Wenn Größe reine Auslegungssache ist
Es klingelte. Louis schoss zur Tür wie eine Rakete. Also… er wollte schießen. Was in der Realität passierte, war ein leichtes Trippeln mit minimalem Rutschanteil – sein neongrünes Halsband flog dabei dramatischer als er selbst. „Boah, hast du einen Zwerg adoptiert?“ rief die Stimme von Frauchens bester Freundin, kaum dass die Tür aufging. Louis war empört. Zwerg?! Ich bin ein Gos d’Atura! Ein Hirtenhund! Ein Bändiger der Pyrenäen! Ein—
„Darf ich ihn streicheln?“ Sie beugte sich runter. Viel zu tief. Viel zu schnell. Louis sprang… dachte er. In Wahrheit hüpfte er etwa 7 Zentimeter hoch, verfehlte ihr Gesicht um mehrere Etagen und landete plump auf dem Boden. Würdelos. Er bellte. Laut. Hoch. Schrill. Die Freundin wich zurück. „Ui, der hat aber Temperament.“ Temperament? Ich war mal der Schrecken jedes Paketboten im Umkreis von fünf Kilometern! Er versuchte sich groß zu machen. Rute hoch. Brust raus. Muskeln anspannen. Nur: Man sah sie nicht. Die Muskeln. Und auch die Rute nicht – die war irgendwo im plüschigen Überwurf verschwunden, den man „Fell“ nannte. Dann geschah es: Sie lachte. Die Freundin. Laut. Und dann – sie bückte sich. Sie hob ihn hoch. Einfach so! Wie ein Welpchen! Wie ein Kuscheltier! Wie ein... Louis! Er zappelte. Er knurrte. Also, er grummelte. „Awww, ist der süß!“ Das war der Moment, in dem er beschloss: Das Sofa bekommt Kratzspuren. Die Hausschuhe ein Loch. Und ihr Auto einen duftenden Gruß auf dem Vordersitz. Frauchen kam mit Kaffee. „Magst du Milch?“ Er nicht. Er wollte Würde. Größe. Respekt.
*****
Später am Abend. Die Freundin war weg. Endlich. Louis hatte sich demonstrativ unter das Sideboard verzogen, als der Besuch zu überschwänglich wurde. Ein klarer Affront gegen seine würdevolle Existenz. Frauchen räumte die Kissen vom Sofa, summte irgendetwas und war mit sich und der Welt beschäftigt. Er nutzte die Gelegenheit, den Raum zu inspizieren – also das, was man aus gefühlten 5 Zentimetern Bodenfreiheit eben so „inspizieren“ nennt. Dann blieb er stehen. Mitten im Wohnzimmer. Vor einem kleinen, verwaschenen Etwas. Sein Herz machte einen Satz. Es war das Schlenkerplüschi. Das Äffchen aus seiner früheren Welpenzeit. Er tappte vorsichtig näher, stupste ihn an. Der Stoff roch wie früher. Eine. kleine Schafduftnote, ein kleiner Sabberrest, ein bisschen Abenteuer dran. Er ließ sich fallen. Direkt daneben. Kleine Schnauze an großer Vergangenheit. Und für einen Moment war da ein leises Gefühl. Kein Gedanke. Kein Wort. Nur so ein Schimmer. Ein Rest von Leo und von seinem früheren Leben.
Frauchen stand plötzlich im Türrahmen, sah ihn an. Sie sagte nichts. Aber ihre Augen wurden weich. Dann bückte sie sich, nahm ihn sanft hoch – diesmal ohne „Awww“. Nur still. Warm.Und legte ihn mitsamt Teddy auf das winzige Wölkchen.
Zwischen Leo und Louis
Manchmal passierte es einfach. Ohne Vorwarnung. Ohne Absicht. Sie stand in der Küche, rief nach dem kleinen Hund – und hörte sich sagen: „Leo, komm.“ Sie biss sich auf die Lippe. Schaute zur Seite, als könne sie die Worte zurückholen, sie ungesagt machen. Aber es war zu spät. Sie hatte es wieder getan. Louis kam trotzdem. Oder gerade deshalb. Mit tapsigen Schritten und diesem übergroßen Selbstverständnis, das so gar nicht zu seiner Körpergröße passen wollte. Sie hob ihn hoch. Er war leicht. Viel zu leicht. Fast so, als könne man ihn verlieren, wenn man nicht gut genug aufpasste.
Am schlimmsten war die Garderobe. Dort, wo früher Leos schwere, dunkelbraune Lederleine hing – griffbereit, mit dieser festen Schwere, die ihn so gut beschrieben hatte – hing jetzt ein himmelblaues Bändchen. Ein Accessoire. Es sah aus, als gehöre es zu einem Plüschtier. Sie schob das Bändchen zur Seite, als suche sie etwas dahinter. Aber da war nichts. Kein Leo. Kein Leder. Nur diese Stille. Und dann war da das schlechte Gewissen. Dass sie lachte, wenn Louis sich mit aller Kraft am Sofa abmühte. Dass sie manchmal vergaß, dass da ein neues Herz schlug, das sie genauso brauchte wie das alte. Dass sie Vergleiche zog, obwohl sie wusste, dass man das nicht sollte. Weil Leo Leo war. Und Louis… Louis.
Sie setzte sich aufs Sofa. Louis sprang nicht hoch, wie Leo es getan hätte. Er blieb unten stehen, jaulte einmal leise. Sie hob ihn hoch. Er schmiegte sich in ihre Armbeuge, drehte sich einmal und seufzte. „Ich weiß“, flüsterte sie. Ob sie sich selbst meinte oder ihn, wusste sie nicht.
Es war drei Uhr achtundvierzig. Sie wusste das, ohne auf die Uhr zu schauen. Weil sie seit Wochen um drei Uhr achtundvierzig wach wurde. Früher war es das schwere Trappeln gewesen, das sie aus dem Schlaf holte. Drei Schritte durchs Schlafzimmer, dann ein tiefes Schnaufen, und plumps – Leo, der sich wie ein alterssouveräner Sack Kartoffeln neben ihr aufs Bett warf. Dann noch ein Seufzer. Und Ruhe. Jetzt war es anders. Jetzt war da Stille. Und ein klitzekleines Piep, irgendwo unten vom Boden. Sie blinzelte. Louis. Er saß im Dunkeln. Winzig. Irgendwo zwischen Bettbein und Vorhang. Der Schatten seines Fells fiel wie ein verlorener Wischmopp über das Parkett. „Komm“, flüsterte sie. Früher wäre Leo mit einem Satz hochgesprungen. Jetzt tapste Louis zum Bett. Schaute hoch. Vergeblich. Sie beugte sich vor, hob ihn hoch. Er fühlte sich an wie ein Atemzug. Sie legte ihn auf die Bettdecke, aber er zitterte. Also zog sie ihn zu sich unter die Decke. Ganz nah. Er kuschelte sich an ihre Brust, mit der Selbstverständlichkeit eines Wesens, das wusste, wohin es gehörte. Sie schloss die Augen.
Und dann passierte es wieder. Ein Geräusch draußen, ganz weit weg – ein Bellen. Dumpf, tief, wie aus einer anderen Welt. Sie erstarrte. Herzstillstand. Für einen Moment war alles wie früher. Doch das Bellen verstummte, und statt Leos schwerem Atem hörte sie nur Louis, der leise fiepte, weil er merkte, dass sie plötzlich weit weg war. Sie drehte sich zu ihm. Legte ihre Stirn an sein winziges Köpfchen. „Ich vermisse ihn so“, flüsterte sie. Und Louis – der da lag, klein wie ein Meerschwein, aber mit dem Herz eines Gosis – schlief weiter. Ein kleines, feuchtes Seufzen entwich ihm. Als würde er sagen: Ich weiß. Ich auch.
2 Kommentare
Schönes Ende, habe richtig mit Leo mitgefiebert 🥰
AntwortenLöschenSo schnell gibt Leo nicht auf ;-) und ich schreibe schon fleißig an Teil 6. Es bleibt witzig und spannend..
LöschenLiebe Grüße
Bine
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Wir freuen uns immer riesig über Rückmeldungen.
Liebe Grüße
Bine & Gubacca