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Wege die bleiben – Kapitel 5

November 12, 2025

Wenn etwas Neues bleibt

Wege, die bleiben – Kapitel 5
Zwei, die den gleichen Schmerz kannten,
fanden den Mut, wieder zu gehen.

Denn man verliert nicht, was man liebt –
man lernt nur, es anders zu halten.

Der Winter kam früh in jenem Jahr. Raureif glitzerte auf den Wiesen, und wenn Karl morgens die Haustür öffnete, roch die Luft nach Schnee und Holzrauch. Hannah war tot. Und manchmal fürchtete Karl, dass Knut jetzt wieder in diese alte Lethargie fallen würde, die ihn schon im Frühjahr umgeben hatte – als wüsste er nicht, wohin mit sich.

Aber Knut zog sich nicht zurück. Er suchte seine Nähe. Kam beim Spazierengehen öfter von selbst an seine Seite, als wollte er prüfen, ob alles in Ordnung war. Karl lief bewusst mit ihm regelmäßig auch die alten Wege, die Hannah ihm beschrieben hatte. Er kannte die Stelle, an der Knut als Welpe in den See geplumpst war, die Weide, an der sie ihm das erste Mal „Sitz“ beigebracht hatte, und die Bank, auf der sie immer Pause gemacht hatten. So lebte Hannah auf ihre Weise weiter – in Geschichten, in Wegen, in einem Hund, der gelernt hatte, wieder zu gehen.

Im Hospiz hatte Karl Hannahs bunte Wolldecke mitnehmen dürfen. Jetzt lag die Decke in Knuts Körbchen, nicht ordentlich gefaltet, sondern so, wie er sie zurechtgeschoben hatte. Wenn Karl ihn darin eingerollt schlafen sah, war da dieses stille, tröstliche Gefühl: dass er Knut ein Stück von ihr geben konnte.

Knut im Korb mit Hannahs Decke – Wege die bleiben Kapitel 5

Als Frau Meyer ihn eines Nachmittags bat, kurz hereinzukommen, wunderte sich Karl nicht. Aber was sie sagte, traf ihn doch unvorbereitet.

„Ich wollte mit Ihnen sprechen“, begann sie vorsichtig. „Wir haben für Knut eine Familie gefunden. Noch länger können wir ihn einfach nicht mehr bei uns behalten. Er wird es dort aber sehr gut haben: Die Leute haben ein Haus mit großem Garten, zwei Kinder – die Frau ist den ganzen Tag zu Hause. Nach Weihnachten darf er umziehen. Es ist wirklich ein Glücksfall für Knut.“

Karl nickte. Er hatte sich nie gefragt, was später mit Knut geschehen würde. Vielleicht, weil er den Gedanken an Veränderung gar nicht zulassen wollte. Natürlich hatte er manchmal gedacht, wie schön es wäre, wenn Knut einfach bleiben könnte – bei ihm, auf dem Teppich neben dem Sessel. Aber er hatte diesen Gedanken immer weggeschoben, als wäre er etwas Ungehöriges.

„Das freut mich“, brachte er hervor. Und hörte selbst, wie falsch es klang.

Als er später die Haustür schloss, wartete Knut wie immer hinter der Scheibe. Sein Blick war ruhig, erwartungsvoll. Karl winkte kurz, dann drehte er sich um, bevor der Kloß im Hals verriet, was er wirklich dachte.

Knut schaut aus dem Fenster – Wege die bleiben Kapitel 5

Über die Feiertage sollte Knut bei ihm bleiben. Frau Meyer wollte verreisen und fragte, ob er einspringen könne. Er sagte ja – fast zu schnell, als wollte er das Unvermeidliche hinausschieben.

Heiligabend kam, wie Weihnachten eben kommt: mit zu viel Licht und vielen Erinnerungen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fuhr Karl ohne Luna zu seinem Sohn. Aber er war nicht allein. Auf dem Beifahrersitz lag Knut, die Pfoten ordentlich gefaltet, als hätte er verstanden, dass das hier ein besonderer Abend war.

Beim Essen lag Knut unter dem Tisch, die Schnauze auf Karls Schuh. Die Kinder steckten ihm unterm Tisch kleine Stücke von der Weihnachtsgans zu, und als er sein Geschenk bekam – ein Stofftier mit langen Ohren – trug er es stolz durch das Zimmer. Niemand sprach von Luna. Aber Karl dachte an sie, und daran, wie seltsam vertraut sich das anfühlte: ein Hund an seiner Seite, aber ein anderer. Und doch – kein Ersatz. Nur ein neues Kapitel derselben Geschichte.

„Er hängt sehr an dir“, sagte seine Schwiegertochter, als sie später gemeinsam den Tisch abräumten. „Man sieht’s an seinem Blick. Hast du nie überlegt …?“ Karl schüttelte lächelnd den Kopf. „Ach, ich und ein junger Hund – das passt nicht mehr.“

Später, als sie die Kerzen auf dem Baum anzündeten, überreichte ihm seine Schwiegertochter ein kleines Päckchen. „Von mir alleine“, sagte sie. Drinnen lag ein gerahmtes Foto: Karl und Knut auf der Bank im Park, der Himmel golden, das Licht weich. Sie hatte es heimlich aufgenommen, an einem der letzten Herbsttage.

Karl packt das Geschenk aus – Wege die bleiben Kapitel 5

Karl schwieg lange. Das Bild zeigte, was er selbst bisher nicht gesehen hatte: zwei Lebewesen, die füreinander da waren.

Auf der Rückfahrt nach Hause war es still im Auto. Knut schlief auf dem Rücksitz, den Kopf auf Karls Mantel gelegt. Als sie ankamen, stellte Karl das Foto auf die Anrichte – neben das von Luna. Er ließ sich Zeit dabei, rückte den Rahmen zurecht, so dass beide sich ansahen. Dann trat er einen Schritt zurück. „So ist’s richtig“, murmelte er. Knut kam heran, stupste seine Hand und legte sich auf den Teppich.

In dieser Nacht schlief Karl unruhig, aber mit einem Gedanken, der blieb: dass man Liebe nicht ersetzen muss, um sie weiterzugeben.

Am nächsten Morgen griff er zum Telefon. Er hatte die ganze Nacht kaum geschlafen, war immer wieder aufgewacht, wenn Knut sich im Körbchen drehte. Die Entscheidung war längst gefallen – aber sie auszusprechen, war eine andere Sache.

„Frau Meyer? Hier ist Karl.“ Er räusperte sich. „Ich wollte nur fragen … ob Sie der Familie schon fest zugesagt haben. Weil – falls nicht – dann würde ich…“ Er brach ab. Einen Moment war nur das Knistern der Leitung zu hören. Dann kam ihre Stimme, warm und fast erleichtert: „Ich hatte so gehofft, dass Sie das sagen würden! Knut hängt so sehr an Ihnen – und man sieht, dass Sie zusammengehören. Vergessen Sie die Familie, Karl. Wir sind glücklich, wenn Knut bei Ihnen bleiben darf.“

Karl sagte eine Weile nichts. Er sah zu Knut, der auf seiner Decke lag, die Schnauze halb im Stoff vergraben, und atmete leise aus. „Dann machen wir das so“, sagte er schließlich. Und seine Stimme klang ruhig, fast leicht. Karl legte das Telefon auf und blieb noch einen Moment stehen. Knut hob kurz den Kopf, als wolle er fragen, ob alles gut sei. „Alles gut“, sagte Karl und lächelte.

Er ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an auf und öffnete das Fenster. Kalte Luft zog herein, Schneeflocken wirbelten leise vorbei. Knut kam, legte sich in den Türrahmen, zufrieden, einfach da. Karl sah hinaus, den Becher in der Hand. Und dachte, dass manche Wege bleiben – auch wenn sie woanders weiterführen.
EPILOG
Im Frühjahr fuhren sie oft zum Friedhof. Der Weg dorthin war zu ihrer neuen Runde geworden. Knut blieb jedes Mal an Hannahs Grab stehen, schnupperte, legte sich hin. Karl brachte frische Blumen, mit und manchmal hatte er auch den Ball in der Tasche.

Drei Bilder im Licht – Wege die bleiben Kapitel 5 Zuhause, im Wohnzimmer, standen drei Bilder nebeneinander: Hannah. Luna. Und das von ihm und Knut. Wenn das Licht am Nachmittag durch das Fenster fiel, leuchteten die Rahmen auf, und Karl dachte manchmal, dass sie einander zublinzelten – Mensch, Hund, Erinnerung. Dann setzte er sich mit seinem Kaffee ans Fenster, Knut zu seinen Füßen, und dachte:

Man verliert nicht alles.
Man lernt nur, es anders zu halten.

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