Bevor sich Wege kreuzen
Manchmal laufen zwei Leben nebeneinander, ohne voneinander zu wissen.
Bis ein Zufall sie kreuzt – irgendwo zwischen Verlust und Neuanfang.
Die Geschichte von Karl und Knut erzählt davon, wie zwei, die den Verlust teilen, trotzdem weitergehen.
KARL
Er hätte nie gedacht, dass ein einziger Tag so lang sein kann. Lustlos saß Karl im Sessel, die Fernbedienung in der Hand. Er zappte durch Sender, die alle gleich klangen, bis er den Fernseher ausschaltete. Nur das Ticken der Wanduhr blieb.
Sein Blick wanderte durch das Zimmer, blieb am Napf hängen, der noch immer an seinem Platz stand. Blank, leer, als wüsste er nichts davon. Sechs Wochen war es her, dass Luna gegangen war, und trotzdem wartete der Napf, als hätte sie sich nur verspätet. Er hatte versucht, ihn wegzuräumen. Aber der Fleck auf den Fliesen darunter wirkte wie eine Wunde. Also stellte er den Napf wieder hin. In der Küchenschublade, dort, wo früher die Leckerchen lagen, herrschte jetzt diese besondere Leere – eine, die nach Erwartung klingt. Er zog sie manchmal auf, nur um hineinzusehen. Vielleicht, weil das Rascheln der Tüte früher immer sofort Pfotenschritte bedeutet hatte.
Er hatte geahnt, dass es wehtun würde. Aber nicht so. „Es war doch nur ein Hund“, hörte er die Leute denken. Für ihn war sie viel mehr gewesen – seine Struktur, seine tägliche Antwort auf das Alleinsein.
Gemeinsam waren sie alt geworden. Beide hatten ihre Wehwehchen, beide kannten die Pausen des anderen. Dass einer zurückbleiben würde, diesen Gedanken hatte er verdrängt. Er hatte vorgesorgt: Wäre er zuerst gegangen, wäre Luna zu seinem Sohn gekommen. Der Gedanke hatte ihn damals beruhigt. Jetzt wünschte er manchmal, es wäre genau so gekommen.
Luna war kein einfacher Hund gewesen, aber sie war sein Hund. Ein kleiner Körper voller Willen. Fünf Kilo Mut, die sich notfalls auch vor einen Rottweiler stellten, sobald der ihr Spielzeug auch nur ansah. Sie hatte ihn gelehrt, morgens aufzustehen, Spaziergänge zu machen, den Tag zu strukturieren. Manchmal, wenn sie ihm beim Kaffeekochen zu Füßen lag, hatte er gedacht, dass man zu zweit sogar das Alleinsein aushalten kann.
Er stand auf, ging zum Fenster. Draußen hing Novemberluft, grau und schwer. Auf der Heizung lag noch ein Haar von ihr, hell und weich. Er nahm es zwischen die Finger, strich kurz darüber und legte es zurück. Dann ging er ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch stand ein Schuhkarton, schlicht, unscheinbar. Darin Lunas Leben: der kleine Regenmantel, das Geschirr, die rote Leine.
Er schloss den Deckel, strich mit der flachen Hand darüber. Er wunderte sich jedes Mal aufs Neue, dass ein ganzes Leben in einen Karton passt. Vielleicht, weil das eigene irgendwann genauso enden würde – zusammengefaltet, aufgeräumt, still. Gerade, als er sich abwenden wollte, hörte er das Knarzen der Tür.
Für einen Herzschlag lang glaubte er, sie käme angerannt – dieses federnde Getrappel, das früher durchs ganze Haus ging, wenn sie glaubte, in der Küche gäbe es etwas für sie. Er lächelte, ohne es zu wollen. Dann atmete er tief durch, stellte den Karton in den Schrank und ging zurück ins Wohnzimmer.
Der Napf stand noch da. Er ließ ihn stehen. Vielleicht, weil er wusste, dass Leere erträglicher ist, wenn sie einen Platz hat.
KNUT
Nur drei Straßen entfernt – ohne, dass die beiden voneinander wussten – lag Knut in seinem Körbchen. Er lebte seit ein paar Wochen in einer Pflegestelle. Auch für ihn zog sich der Tag endlos hin.
Hannah, sein Frauchen, hatte ihm beim Abschied ihren Schal dagelassen. „Damit du mich nicht vergisst, mein Großer“, hatte sie gesagt und gelächelt, obwohl ihre Augen schon müde waren. Seitdem lag der Schal in seinem Körbchen. Er roch noch immer nach ihr – warm, süßlich, ein wenig nach Lavendel. Wenn das Haus still war, legte er die Nase daran und atmete tief.
Trotzdem stand er kaum auf, höchstens um schnell hinauszugehen, und legte sich dann wieder so, dass er die Tür im Blick hatte. Diese Tür war sein Fenster zur Hoffnung. Hannah hatte gesagt, es sei nur für kurze Zeit. „Ich muss ins Krankenhaus, mein Großer. Bald bin ich wieder da, dann laufen wir unsere großen Runden, ja?“ Er wusste nicht, was „Krankenhaus“ bedeutete, aber ihre Stimme war sanft gewesen. Also hatte er ihr geglaubt.
In den ersten Tagen wartete er einfach. Wenn auf der Straße ein Auto hielt, hob er den Kopf. Wenn im Hausflur eine Frau lachte, sprang er auf. Doch keiner von ihnen roch nach ihr. Mit der Zeit lernte er, nicht mehr jedes Geräusch zu deuten. Aber die Hoffnung blieb – zäh wie ein Muskel, der sich nicht abschalten lässt.
Die Menschen in der Pflegestelle waren freundlich. Sie gaben ihm Futter, redeten mit gedämpften Stimmen, manchmal legten sie ihm eine Hand auf den Kopf. Aber niemand sprach ihn an wie sie. Sie nannten ihn „Knut“, sachlich, fast vorsichtig. Hannah hatte ihn „Knuddelbärchen“ genannt, manchmal „mein Schöner“, wenn sie ihn bürstete. Diese Worte fehlten ihm mehr als Futter oder Spaziergänge.
Er spürte, dass sie in diesem Haus keine Zeit hatten. Alles war sauber, organisiert – aber ohne Takt. Früher hatte das Leben Musik gehabt – Hannah redete, lachte, sang beim Kochen, und er lag in der Küche, den Kopf schief, weil er jedes Wort verstand. Jetzt war alles nur noch Geräusch.
Und manchmal kam diese andere Angst. Wenn es Abend wurde und die Lichter gedimmt waren, legte er die Pfote auf den Schal und dachte: Was, wenn sie zurückkommt, aber ich bin nicht da? Und so wartete er weiter. Auf Schritte, die nicht mehr kamen. Auf eine Stimme, die nur noch im Traum klang.
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