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Wege, die bleiben – Kapitel 3

November 09, 2025

Im gleichen Takt

Wege, die bleiben – Kapitel 3

Es fing harmlos an – zwei, die eigentlich nichts voneinander wollten.
Dann kam der Rhythmus, das Schweigen, das gemeinsame Tempo.
Und plötzlich war da dieses „Wir“, das keiner geplant hatte.

Vielleicht beginnt so etwas wie Vertrauen – nicht mit großen Gesten,
sondern mit kleinen Schritten, die man einfach weitergeht.



Am Anfang war jeder Spaziergang ein Kompromiss. Knut wollte bleiben, Karl wollte los. Und so standen sie da, einer mit der Leine, der andere mit dem festen Vorsatz, sich nicht zu bewegen. Für Knut war draußen sein ein Risiko. Was, wenn Hannah zurückkam und er nicht da war? Jeder Schritt weg vom Haus war ein Stück zu weit.

Dieser neue Mensch war anders. Kein helles Lachen, kein schneller Griff zu seinem Halsband. Er roch nach Kaffee, alten Büchern und Herbst – ein bisschen nach gestern, aber ohne die Wärme. Wenn er sich bückte, tat er das langsam, als kämpfe er gegen eine unsichtbare Mauer.

Hannah war das Gegenteil. Sie war Tempo, Klang, Chaos im besten Sinn. Sie sang beim Spazierengehen, manchmal falsch, meistens laut. Er durfte dann bellen, das zählte als Mitsingen. Und wenn sie nach Hause kamen, lief das Radio noch, sie tanzte mit ihm durchs Wohnzimmer. „Na komm, mein kleiner Sinatra“, sagte sie, und er legte den Kopf schief, weil er wusste: Das war Liebe in ihrer Lautstärke.

Karl dagegen war Stille in Menschengestalt. Er sprach nicht viel, murmelte höchstens mal ein „Na komm schon“, so tief, dass es fast ein Seufzer war. Aber er blieb stehen, wenn Knut stehen blieb. Nur Warten. Und das war seltsam tröstlich – weil man in dieser Stille nichts vortäuschen musste.

Am dritten Tag fiel Knut auf, dass die Schritte neben ihm immer gleich klangen. Nicht zu schnell, nicht zu nah – wie ein Herzschlag, der sich beruhigt hat. Er begann, sich daran zu gewöhnen. Vielleicht sogar, es zu mögen.


Manchmal sind es die kleinen Dinge, die zuerst anders werden. Zum Beispiel, dass Knut mittlerweile an der Tür wartete, sobald die Kirchturmuhr zwei schlug. Vorher lag er halb wach im Körbchen, die Ohren leicht nach hinten gekippt, und hob nur kurz den Kopf, wenn draußen Schritte erklangen. Nicht jedes Paar Schuhe klang richtig. Aber wenn es die von Karl waren – dieses dumpfe, gleichmäßige Geräusch – da stand er auf, schüttelte sich und ging zur Tür. Nicht vor Freude, sondern weil sich etwas eingespielt hatte. Wie ein Ritual, das keiner geplant hatte.

Und Karl kam. Immer. Pünktlich, Jacke, Hut, die Hände tief in den Taschen, als ginge es zu einem Termin, den man nicht verpassen darf. Frau Meyer öffnete jedes Mal schon mit einem kleinen Lächeln: „Er wartet schon auf Sie.“ Karl nickte dann nur, griff nach der Leine, und beide wussten: Mehr Worte braucht’s nicht.

Karl und Knut – Begegnung vor Frau Meyers Tür

Knut stand dann da – kein Bellen, kein Wedeln. Nur dieses ruhige „Da bist du“, das keine Worte braucht. Karl mochte das. Keine Erwartungen, kein Getöse. Nur Pfoten auf Pflaster, den Atem neben sich. Er hatte nicht gewusst, dass Stille so tröstlich sein konnte.

Knut mochte es auch, obwohl er das selbst nicht verstanden hätte. Dieser Mensch sprach kaum, aber er hörte zu – sogar dann, wenn keiner redete. Er zog nicht, gab keine Richtung vor. Und das war gut. Endlich musste Knut niemandem etwas vorspielen, nicht tapfer wirken, nicht gefällig sein. Er durfte einfach gehen.

Mit jedem Tag wurde dieses Gehen vertrauter. Sie begegneten den gleichen Hunden – dem neugierigen Terrier, der immer zu nah kam, der alten Retrieverhündin, die alles und jeden ignorierte. Manchmal nickten die Menschen einander zu, als wären sie alte Bekannte  und dann war wieder Ruhe.

Knut begann, immer öfter auf den Klang von Karls Schritten zu achten. Zwei Schritte, dann ein Atemzug. Er merkte, wann Karl kurz stehen blieb, um die Sonne im Gesicht zu spüren. Und Karl lernte, Knuts winzige Bewegungen zu lesen – das Zucken in der Schulter, bevor er stehen blieb, das leichte Schnauben, wenn er keine Lust hatte, weiterzugehen.

Sie trauerten unterschiedlich, aber im gleichen Takt. Für Knut waren vertraute Wege wie Erinnerungen zum Anfassen. Wenn sie an der alten Kastanie vorbeikamen, an der Hannah ihn immer hatte schnüffeln lassen, hob er die Nase, als suchte er ihren Geruch. Er spannte die Muskeln, die Rute leicht erhoben, bereit, nach Hause zu laufen. Karl sah das  und lockerte die Leine. Kein Ziehen, kein Kommando. Nur dieses stille Einverständnis: Ich weiß, du erinnerst dich.

Karl dagegen mied alles, was nach „früher“ roch. Er nahm lieber neue Pfade, auch wenn sie manchmal in Sackgassen führten. Er brauchte das Unbekannte, weil das Bekannte zu sehr nach Verlust klang.

Wenn Knut stehen blieb, wartete Karl. Wenn Karl langsamer wurde, passte Knut sich an. Sie konnten einander nicht erklären, was sie fühlten, aber sie passten sich an – und das war fast dasselbe.

An manchen Tagen lief Knut fast leichtfüßig, die Ohren im Wind, die Rute locker. Dann musste Karl lächeln, weil das so aussah, als würde jemand wieder wissen, wozu Beine gut sind. An anderen Tagen blieb Knut einfach stehen oder legte sich ins Gras. Und Karl ließ ihn. So hielten sie sich gegenseitig aus.

Manchmal hatte Karl gute Tage. Dann schlug er neue Wege vor, sprach sogar mit Knut, halblaut, fast verlegen. „Na, mein Junge, heute mal links? Oder riskieren wir rechts?“ Und manchmal, an stillen Nachmittagen, setzten sie sich einfach auf die Bank im Park. Knut legte den Kopf auf seine Knie, Karl strich durchs Fell, und beide taten so, als würde ihnen das gar nichts bedeuten.


Eines Nachmittags änderte Knut die Richtung. Ohne Zögern, ohne einen Blick zu Karl, einfach so. Der Pfad war schmal, fast zugewachsen, zwischen Brombeerhecken und alten Zäunen. Karl wollte schon protestieren, aber dann sah er diesen Ausdruck bei Knut – eine Mischung aus Entschlossenheit und Ahnung. Also folgte er.

Die Sonne stand tief, die Luft roch nach feuchtem Holz und Erde. Knut lief voraus, der Rücken angespannt, die Schritte schnell, so, als würde eine unsichtbare Leine ihn ziehen. Einmal blieb er kurz stehen, sah nach rechts, dann wieder nach vorn, wie jemand, der die Erinnerung abgleicht mit dem Jetzt.

Sie kamen an einem Gartentor vorbei, an einem kleinen Bach, über einen Feldweg, den Karl nie gesehen hatte. Dann blieb Knut plötzlich stehen. Die Muskeln lösten sich, der Atem ging schneller, und in seinem Blick lag dieses Aufleuchten, das man nicht erklären kann, aber sofort erkennt.

Er ging ein paar Schritte vor, roch an einem alten Zaunpfosten, drehte sich um und sah Karl an. Hier, schien dieser Blick zu sagen. Genau hier.

Knut führt Karl nach Hause

Karl trat neben ihn. Vor ihnen lag ein kleines Haus, der Garten verwildert, aber man sah noch die Spuren eines Lebens: ein Blumentopf auf der Seite, eine Leine am Haken, ein Tennisball, halb im Gras. Er brauchte nichts zu fragen. Knut hatte ihn nach Hause geführt.

Für einen Moment stand alles still. Dann ließ Karl sich auf die Fersen sinken, legte die Hand in Knuts Fell. „Na, mein Junge“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu ihm. Knut lehnte sich an, schwer und ruhig, und Karl dachte, dass Trauer vielleicht genau so klingt – wie zwei, die schweigend das Gleiche sehen.

Später, als er Frau Meyer die Leine zurückbrachte, sagte er: „Ich glaube, wir standen heute vor Knuts Zuhause. Er ist plötzlich losgelaufen, zielstrebig, als wüsste er genau, wohin.“ Frau Meyer nickte. „Da, wo Sie waren – da hat er mit seiner Hannah gewohnt.“

Karl schwieg. Er sah auf die Leine in seiner Hand, auf die Spuren von Erde an seinem Mantel, und wusste, dass sie beide dasselbe suchten: etwas, das bleibt, wenn alles andere gegangen ist.



Es war ein Dienstag, unscheinbar wie jeder andere. Der Regen hing tief zwischen den Häusern, und Karl stand schon an Frau Meyers Gartentor. Knut wartete drinnen, langsamer als sonst, der Blick matt, die Rute ohne Schwung.

Frau Meyer öffnete später als sonst. Sie sah aus, als hätte sie geweint, das Taschentuch noch in der Hand. „Herr Schuster … gut, dass Sie da sind.“ Sie stockte kurz, sammelte sich. „Wir haben heute früh Nachricht bekommen. Hannah – die Frau, der Knut gehört – sie ist jetzt im Hospiz.“ Sie brach ab, suchte nach Worten, die nicht so endgültig klangen.

Karl nickte langsam. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Nur, dass ihm der Hund leidtat. Knut war inzwischen aufgestanden, stand neben ihm, die Nase leicht gesenkt, als hätte er etwas verstanden, das Menschen immer zu spät begreifen. Karl kniete sich hin, legte die Hand in das dichte Fell. „Na, mein Großer“, flüsterte er. Die Stimme klang, als wäre sie lange nicht benutzt worden.

Karl und Knut im Regen – stiller Spaziergang

Sie gingen an diesem Tag nicht weit. Nur eine kleine Runde um den Park. Der Regen setzte ein, erst fein, dann dichter. Er prasselte auf die Blätter, lief über Knuts Rücken, tropfte von Karls Hut. Keiner redete. Es war, als hätte die Welt beschlossen, leise zu sein – ihretwegen.

Karl hatte sich gefreut, bei dem Gedanken, dass dieser Hund bald wieder dorthin konnte, wo er hingehörte. Zurück zu seiner Hannah, zurück in sein Zuhause, zu einem Herz, das ihn kannte. Jetzt wusste er, dass Warten keine Richtung mehr hatte.

Zuhause setzte er sich an den Küchentisch. Vor ihm die alte Kaffeetasse, neben ihm der Karton mit den Dingen, die von Luna geblieben waren. Er hatte es doch nicht fertiggebracht, sie abzugeben. Er strich über den Deckel, als suchte er darin eine Antwort. Dann seufzte er – dieses tiefe, schwere Seufzen, das man nicht übt, sondern nur noch kann.

Wenn Knut wirklich verstand, was Verlust bedeutet  und das tat er wohl besser als jeder Mensch –, dann musste er sich verabschieden dürfen.

Am nächsten Tag würde Karl zu Frau Meyer gehen und fragen, wo dieses Hospiz ist. Nicht aus Pflicht. Sondern, weil Liebe manchmal heißt, einen Weg noch einmal mitzugehen – auch wenn man weiß, dass er endet.


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