Wahrscheinlich ist es eine perfekte Schutzreaktion des Körpers, dass man sich an vieles gewöhnt. Stück für Stück hatte Lottchen in den letzten Monaten an Kraft und Gesundheit verloren – und Stück für Stück habe ich mich daran gewöhnt. Ihr Fell war fast verschwunden, aber für mich war sie trotzdem „mein Lottchen“ wie immer. Das Aussehen trat in den Hintergrund, weil der Alltag weiterging. Auch dass sie immer mäkeliger fraß, schien mir kein Alarmzeichen. Meine Mutter dagegen sorgte sich um jedes Zurücklassen im Napf, um jedes Kauen, das zu zögerlich wirkte. Ich verstand ihre Angst – ich kenne diese Panik selbst. Aber ich sprach ihr Mut zu. „Morgen frisst sie bestimmt wieder besser.“ Und manchmal stimmte das sogar.
Dann dieser Satz meiner Mutter, leise, fast verschluckt: „Ich habe Angst, zur Tierärztin zu gehen. Ich fürchte, sie sagt, wir müssen sie einschläfern lassen …“ Ich tröstete: „Mutti, wir haben sicher keine Jahre mehr mit Lottchen und ihrem Cushing, aber noch Monate.“ Heute weiß ich: sie hatte das bessere Bauchgefühl. Und so verabschiedete ich mich sorglos, als mein Urlaub begann. Ein kurzer Blick, ein Streicheln – nicht wissend, dass es das letzte Mal sein sollte. Die Koffer standen bereit, das Allgäu wartete. Es fühlte sich an wie immer. Ich ahnte nicht, dass ich Lottchen schon „Tschüss“ gesagt hatte.
Der Urlaub begann turbulent. Herr Mini-Rütter musste ins Krankenhaus nach Füssen, und ich war mit ganz anderen Sorgen beschäftigt. Als er wieder auf die Beine kam, atmete ich auf – für einen Moment. Und dann kam die Nachricht: „Wir waren beim Tierarzt. Wir mussten Lottchen gehen lassen.“ Es war, als würde jemand den Boden unter mir wegziehen. Alles war surreal. Wie konnte das sein? Eben noch war sie da. Eben noch hatte ich Mut zugesprochen. Und jetzt: vorbei. Ich wollte schreien, weinen, den Moment zurückdrehen. Ich hätte mich so gerne verabschiedet – ihre Ohren gestreichelt, noch einmal geflüstert, wie sehr sie geliebt wird. Aber hätte es den Abschied leichter gemacht? Oder nur noch schwerer? Ich weiß es nicht. „Versuch, die letzten Urlaubstage zu genießen …“, sagten Freunde. Ein gut gemeinter Rat. Aber wie soll man genießen, wenn man weiß, dass es den wichtigsten Menschen im Leben gerade den Boden wegreißt?
Ich kann mit dem Tod nicht gut umgehen. Diesmal aber geht es nicht nur um meine eigene Trauer. Es tut mir fast noch mehr weh, dass meine Eltern leiden. Jeder Mensch trauert anders – ich merke, wie unsicher ich werde. Soll ich mit ihnen über Lottchen reden, auf die Gefahr hin, ihre Wunde jedes Mal neu aufzureißen? Oder soll ich sie ablenken, schweigen, hoffen, dass es für ein paar Minuten leichter wird? Was ist richtig?
Der erste Besuch gestern war der schwerste. Am Telefon ist es eine Nachricht. In der Wohnung wird es Realität. Schon beim Eintreten liefen mir die Tränen. Ich wusste, Lottchen würde mir nicht entgegenlaufen – und doch erwartete mein Herz genau das. Wir versuchten, den Sonntag wie immer zu gestalten. Spielten Karten. Gubacca lag lang ausgestreckt unter dem Tisch, so als wolle er den Platz ausfüllen, den es nicht mehr gab. Doch es fehlte jemand. Und die Stille hatte ein Gewicht. Mein Blick wanderte ins Wohnzimmer. Der Schnüffelteppich war verschwunden. Diese Leere traf mich wie ein Schlag. Und dann in der Küche: der kleine Wassernapf. Eigentlich für Gubacca – und doch war er wie ein Anker. Ein vertrauter Anblick, der nicht auch noch weg war. Und in diesem Moment spürte ich: manchmal tröstet das Kleinste. Ein Napf, eine Gewohnheit, die geblieben ist.
Vielleicht ist das der Weg, den wir jetzt gehen müssen: nicht nach dem großen Trost suchen, sondern nach den winzigen Dingen, die tragen. Ein Blick, ein Satz, ein Lächeln, das ganz kurz durch die Tränen bricht. Die Trauer wird bleiben. Aber irgendwann wird sie nicht mehr nur schreien „nie mehr“, sondern auch flüstern: „es war.“ Und bis dahin zählt jeder Schritt. Auch die ganz kleinen.
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