Es heißt, jedes Tal habe zwei Seiten. Man steigt hinab, man geht hindurch, und irgendwann führt ein Weg wieder hinauf ins Licht. Doch es gibt Täler, in denen bleibt der Sonnenschein aus.
Ich gehe jetzt durch ein solches Tal. Der Boden ist weich vom Regen, er saugt meine Schritte auf, als wolle er mich festhalten. Nebel hängt schwer zwischen den Hügeln, als hätte er vergessen, weiterzuziehen. Jeder Atemzug brennt in meiner Brust, nicht vor Kälte, sondern weil die Trauer so groß ist, dass sie kaum Raum zum Atmen lässt.
Eine Weile gehe ich allein. Es ist still, bis auf das Tropfen des Wassers von den Zweigen und das Schmatzen des Bodens unter meinen Schuhen. Dann sehe ich ihn. Am Rand des Weges sitzt ein alter Hund. Sein Fell ist grau wie Morgennebel, sein Körper schmal, aber aufrecht. In seinen Augen liegt die Ruhe vieler Jahre, und doch funkelt darin ein Glanz, als hätte er schon alle Tränen dieser Welt gesehen. Er hebt den Kopf, als hätte er auf mich gewartet.
„Du bist im Tal der Tränen“, sagt er. Seine Stimme klingt wie das Knacken von trockenem Holz im Feuer – warm, aber auch ein wenig brüchig. „Ja“, flüstere ich. „Und diesmal weiß ich, dass es keinen Sonnenschein am Ende geben wird. Für meine Eltern wird es keinen neuen Hund mehr geben. Es bleibt nur die Leere.“ Der alte Hund nickt langsam. „Es gibt Trauer, die keinen Ausweg ins Licht hat. Doch auch in diesen Tälern öffnen sich Fenster. Sie gehören nur dir – und sie zeigen dir, was bleibt, wenn das Sichtbare fort ist.“
Die Fenster der Erinnerung
Er erhebt sich mühsam und geht neben mir her. Wir schweigen eine Weile, bis er mit seiner Schnauze auf eine Stelle deutet. Dort, zwischen den Bäumen, öffnet sich das erste Fenster.
Ich sehe vier winzige Welpen, kaum größer als Mäuse. Drei drängen sich nach vorne, aber mein Blick bleibt an der vierten hängen: so klein, so frech, ein Gesicht wie ein kleiner Pirat. Die kleine Piratin. Mein Herz zieht sich zusammen, als hätte jemand eine Saite angeschlagen. „So hat es angefangen“, sage ich leise. „Mein Vater wollte einen Hund, der selbstbewusst durchs Leben geht. Und er hat sie gefunden.“ Der alte Hund nickt. „Manchmal beginnt das größte Glück im kleinsten Körper.“
Wir gehen weiter. Der Nebel wird dichter, doch schon bald öffnet sich ein zweites Fenster. Ein Garten voller Licht. Dort steht Lottchen, winzig, und neben ihr Chiru – riesig, beinahe einschüchternd. Ich höre die ängstliche Stimme meiner Mutter: „Er wird ihr doch nichts tun?“ Und dann sehe ich, wie sanft er ist, wie er sich über sie beugt, beschützend, fast zärtlich. Lottchen lehnt sich an ihn, und ich spüre, wie ihre Liebe zu ihm schon in diesem Moment wurzelt. „Sie haben einander gefunden“, sage ich. „Und sie haben einander verändert“, antwortet der alte Hund. „Solche Begegnungen sind kein Zufall.“
Ein drittes Fenster öffnet sich. Die Halde, steil und hoch, der Himmel weit. Drei Hunde jagen nach oben. Lottchen mittendrin – mutig, neugierig. Doch als die Großen wieder hinunterrasen, bleibt sie oben stehen. Zu steil, zu gefährlich. Ihre kleinen Pfoten zittern, ihr Körper spannt sich vor Angst. Und dann sehe ich Chiru. Er bleibt nicht unten, wo das Spiel weitergeht. Er kehrt um. Schritt für Schritt geht er zurück, stellt sich an ihre Seite, und gemeinsam steigen sie hinab. Meine Kehle schnürt sich zu. „So viel Liebe in einer so einfachen Geste.“ „Liebe“, sagt der alte Hund, „ist nicht, wer am schnellsten rennt. Sondern wer zurückkommt.“
Ich bleibe stehen, weil die Tränen mir die Sicht nehmen. „Es tut so weh“, sage ich. „So sehr, dass ich manchmal nicht weiß, wohin mit all dem Schmerz.“ Der alte Hund schaut mich lange an. „Den Schmerz wirst du nicht los“, sagt er schließlich. „Aber du kannst lernen, ihn zu tragen wie einen Stein in deiner Tasche. Am Anfang drückt er dich nieder. Doch mit der Zeit gewöhnst du dich an sein Gewicht. Du wirst ihn nie weglegen, aber du wirst lernen, mit ihm zu gehen.“
Wir bleiben still, bis sich das nächste Fenster zeigt. Ein Balkon, graue Wolken am Himmel. Lottchen steht dort, ihr Blick hellwach, ihre Stimme laut. Mit klarem Gebell jagt sie die Dohlen davon, die sich zu nah heranwagen. So klein ihr Körper, so groß ihre Kraft. Ich muss lächeln, auch wenn mir die Tränen über die Wangen laufen. „Sie war kein Schmuckstück“, sage ich. „Sie war einfach Hund. Ein Hund, der Hund sein durfte.“ „Und genau darin lag ihre Würde“, meint der alte Hund.
Das fünfte Fenster zeigt Gubacca. Er kommt in ihr Leben, und Lottchen wird zur großen Schwester. Es ist keine Seelenverwandtschaft wie mit Chiru. Aber da ist ein stilles Band. Ich sehe sie beide, wie sie gleichzeitig auf dem Rücken liegen, keiner will der Anführer sein. „Auch das ist Liebe“, sagt der alte Hund. „Nicht immer Leidenschaft. Manchmal auch das Einverständnis, nebeneinander zu sein.“
Ein weiteres Fenster öffnet sich, voller Bewegung. Lottchen läuft an Hunden vorbei, die groß, stark und laut sind. Sie sieht sie nicht einmal. Ihr Blick gilt nur dem Bällchen, das sie zurückholen will. Kein Zittern, kein Ausweichen – nur dieses stille Selbstbewusstsein. Meine Stimme zittert vor Stolz und Trauer zugleich.
Und dann, fast überraschend, ein heiteres Bild. Zwei Hundeboxen im Urlaub. Lottchen, fünf Kilo, selbstbewusst in der großen Box. Gubacca, dreiundzwanzig Kilo, zusammengedrängt in der kleinen. Ich muss lachen, obwohl ich weine. „Auch im Dunkel darf gelacht werden“, sagt der alte Hund. „Das Lachen ist ein Faden, der dich mit ihr verbindet.“
Der Weg weiter
Die Fenster schließen sich langsam. Ich will sie festhalten, aber er legt seine graue Pfote auf meine Hand. „Sie gehören dir. Du kannst sie immer wieder öffnen. So oft du willst.“ Ich bleibe wieder stehen. „Es fühlt sich an, als würde ich in diesem Tal ertrinken“, sage ich. „Wie soll ich das aushalten?“
Der alte Hund hebt den Blick zum Nebel. „Du musst nicht versuchen, den Schmerz wegzuschieben. Lass ihn da sein. Trauer ist wie ein Fluss – wenn du gegen ihn ankämpfst, gehst du unter. Aber wenn du dich tragen lässt, bringt er dich weiter. Nicht schneller, nicht leichter, aber weiter. Und irgendwann merkst du: Zwischen all den salzigen Tränen trägt er dich auch zu Momenten des Lächelns zurück.“
„Aber die Sonne fehlt“, sage ich. „Es wird nicht heller. Für meine Eltern wird es keinen neuen Hund geben. Kein Licht am Ende dieses Weges.“ Der alte Hund legt seine Schnauze in meine Hand. „Das stimmt. Es gibt Täler ohne Sonnenschein. Aber deine Tränen leuchten, weil sie aus Liebe geweint sind. Du weinst nur so, weil du so reich beschenkt wurdest.“
Wir gehen weiter, Schritt für Schritt. Das Tal bleibt dunkel, schwer. Aber es ist nicht leer. Zwischen den Schatten glimmen die Bilder, die Stimmen, die Fenster. Und das genügt, um weiterzugehen.
Danke, Lottchen – für jede Spur, die du in unserem Leben hinterlassen hast. Wir weinen, weil wir dich so sehr geliebt haben. Und du hinterlässt eine Lücke in unserem Herzen, die sich nicht schließen lässt. Wir vermissen dich!
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