Genervt schaute Tom seine Freundin Pia an: „Du willst heute schon wieder nicht mit zum Strand kommen?!“ „Doch, nur später!“, antwortete Pia. „Sorry, aber so habe ich mir unseren gemeinsamen Urlaub nicht vorgestellt. Ständig suchst du nach Ausreden, um nichts mit mir unternehmen zu müssen. Dafür rennst du dann mit Hundefutter durch die Gegend und suchst diesen Streuner." „Du hast ja recht Tom“, lenkte Pia ein. „Aber es gibt hier so viele herrenlose Hunde, die in Not sind! Wie kann ich da entspannt in der Sonne liegen. Außerdem bist du der Sonnenanbeter - nicht ich." Wütend schnappte sich Tom seine Badetasche, knallte die Zimmertür hinter sich zu und ging allein zum Strand.
Traurig setzte sich Pia auf den kleinen Balkon, der zu ihrem Hotelzimmer gehörte. Tom hatte ja recht, musste sie sich eingestehen. Sie hatten sich so auf den gemeinsamen Urlaub gefreut. Endlich konnten sie viel Zeit miteinander verbringen und hatten sich extra einen Urlaubsort ausgesucht, der nicht zu den typischen Touristenzielen gehörte. Aber dann folgte ihnen am zweiten Tag ein wuscheliger Hundestreuner bis zum Hotel. „Du gibst ihm aber nichts zu fressen!“, ermahnte Tom sie noch. „Wir bekommen dann garantiert Ärger mit dem Hotelbesitzer. Die mögen das nicht, wenn man herrenlose Hunde füttert.“ Natürlich hatte Pia den Hund dann doch heimlich gefüttert. Vom Abendbuffet hatte sie kleine Fleischstückchen in eine Serviette gepackt, die der Rüde auch sofort gierig verschlang. Am nächsten Tag wartete der Streuner schon mittags auf sie und Pia lief zum nächsten Supermarkt, um Hundefutter für ihn zu kaufen. Auch in den kommenden Tagen tauchte der Rüde immer wieder auf und ließ sich die Leckereien schmecken, die sie ihm gab. Tom schaute sie dann jedes Mal missbilligend an. „Unterernährt sieht der Hund ja nicht gerade aus. Der hat garantiert ein Zuhause und holt sich jetzt bei dir eine Extraportion“. Ganz unrecht hatte Tom damit nicht, musste Pia zugeben. Besonders dünn war der Rüde nicht und er ließ sich auch bereitwillig von ihr anfassen und streicheln. Aber sein Fell war stark verfilzt und er machte eine verwahrlosten Eindruck. Ein Halsband hatte er auch nicht und sie hatte schon überlegt, ob der oder die Besitzerin vielleicht verstorben war und der Rüde deshalb alleine lebte. Niemand schien ihn zu vermissen.
Nach wenigen Tagen war es für Pia schon Gewohnheit, dass der Streuner immer irgendwann bei ihr am Hotel auftauchte. Er wurde immer zutraulicher und sie hatte mit einer ihrer Haarbürste angefangen vorsichtig sein Fell zu entwirren. Ihr neuer Freund genoß die Streicheleinheiten sichtlich und Pia verliebte sich immer mehr in den Streuner. Sobald sie und Tom zum Strand liefen, folgte er ihnen mit einem kleinen Abstand und wartete bis sie wieder zurück zum Hotel liefen. In der zweiten Urlaubswoche blieben seine Besuche plötzlich aus und es fehlte jede Spur von ihm. Tom war sichtlich erleichtert darüber, aber Pia machte sich große Sorgen. „Was soll ihm denn passiert sein?“ versuchte Tom Pia trotzdem zu beruhigen. „Wahrscheinlich hat er jemand anderen gefunden, der noch leckeres Futter hat.“ Aber Pia ließ die Sache keine Ruhe und sie hatte die letzten Tage damit zugebracht, nach dem Streuner zu suchen. Für heute hatte sie sich vorgenommen nach ihm in dem kleinen Nachbardorf zu suchen. Dort lebten nur Einheimische und vielleicht kannte ihn ja jemand dort. Sie hatte mit ihrem Handy viele Fotos von dem Rüden gemacht und vielleicht erkannte ihn ja jemand darauf.
Das Tom jetzt sauer auf sie war, ließ sich jetzt eh nicht ändern, dachte Pia sich und machte sich auf den Weg. In dem Dorf steuerte sie den kleinen Lebensmittelladen an und hatte sofort Glück. Sie zeigte dem Ladenbesitzer ein Handyfoto und er erkannte „ihren“ Streuner sofort: „Sí, conozco al perro, ese es Chico.“ Mit Händen und Füßen erzählte er ihr, dass Chico der Hund von dem alten José gewesen sei. José war vor zwei Jahren gestorben und seit dem lebte der Rüde alleine auf dem verlassenen Hof. „Aber das ist ja schrecklich - der Arme! Ein Hund muss doch ein Zuhause haben!“ Aber da lachte der Ladenbesitzer nur und sagte zu ihr „Chico ist kein armer Hund - er ist reich! Er hat viele Freunde und wir alle kümmern uns um ihn.“ Pia ließ sich den Weg zu dem Hof von dem Ladenbesitzer erklären und machte sich auf den Weg dorthin. Auf dem Hof bot sich Pia ein trostloser Anblick. Überall lagen Müll, alte Autoreifen und das Haus war fast verfallen. Aber Chico war tatsächlich dort und lag mit noch einem zweiten Hund im Gras. „Na, du Streuner - habe ich dich endlich gefunden!“ Pia hatte Tränen in den Augen als Chico aufstand und ihr freudig entgegenlief. Sie drückte den Hund fest an sich und flüsterte ihm ins Ohr: „Hier wirst du auf keinen Fall bleiben! Das verspreche ich dir!“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst Pia! Du willst diesen Streuner mit nach Deutschland nehmen?“ Tom schaute Pia entsetzt an. „Dieser Streuner hat einen Namen und heißt Chico und ich werde ihn mit nach Hause nehmen. Auf dieser Müllhalde werde ich ihn auf keinen Fall weiterleben lassen!“ „Aber du hast doch selbst gesagt, dass der Ladenbesitzer dir versichert hat, dass sich viele aus dem Dorf um ihn kümmern. Abgesehen davon macht „dein“ Chico auf mich keinenn unglücklichen Eindruck und abgemagert ist er auch nicht gerade.“ „Du hättest das Grundstück sehen müssen Tom. Überall liegt Müll herum und das Haus ist nur noch eine Ruine. Außerdem hast du auch immer gesagt, dass es ein Hund in Not sein soll, wenn wir uns für ein Haustier entscheiden sollen.“ „Damit meinte ich aber keinen Straßenhund aus Spanien Pia, sondern eine der vielen armen Seelen in unseren Tierheimen“. „Ach komm Tom - gib deinen Herzen einen Ruck. Wenn du mich wirklich liebst sagst du ja…“
Vier Wochen später in Deutschland
Traurig schaute Pia zu Chico herüber, der sich in der Zimmerecke eingerollt hatte. So hatte sie sich die gemeinsame Zeit mit ihm nicht vorgestellt. Chico zog sich immer mehr zurück und war nicht mehr wiederzuerkennen. Aus dem selbstbewussten Streuner war ein ängstlicher Hund geworden, der draußen vor jedem Geräusch zurückschreckte und nur noch am Bellen war. Das schöne neue Hundekörbchen stand unbenutzt neben dem Sofa und es kam immer häufiger vor, dass Chico seinen Fressnapf nicht anrührte. Zum Glück ersparte ihr Tom sein sonst für ihn so typisches „Das habe ich dir doch gleich gesagt“. Auch ihm tat Chico leid und er versuchte ihn aufzumuntern, in dem er mit ihm so oft wie möglich zum Badesee fuhr. Dort blühte Chico jedes Mal richtig auf, tobte durch das Wasser und war das, was sie sich so sehr für ihn wünschten - ein glücklicher Hund. Aber sobald er dann wieder ins Auto einsteigen musste und es zurück in die Stadt ging, zog er sich wieder vollkommen in sich zurück.Pia versuchte trotzdem den Mut nicht zu verlieren. Sie hatte sich in zahlreichen Internet-Foren für Hunde aus dem Ausland angemeldet, um möglichst viel über die Eingewöhnung von Streunern zu erfahren. Aber die vielen „Erfolgsgeschichten“ von Hunden, die glücklich in ihrem neuen Zuhause waren, frustrierten sie immer mehr. Was machte sie nur falsch? Sie hatte es doch nur gut gemeint und wollte das beste für den Rüden. Ihm ein sicheres Zuhause geben, ein schönes Körbchen, immer genug zu essen und vor allem ihm ihre Liebe schenken. „Vielleicht müssen wir einfach nur geduldiger sein“, versuchte Tom ihr immer wieder Mut zu machen. Für ihn ist ja auch alles fremd. Denk nur an den Verkehrslärm, den er überhaupt nicht kennt. Er ist gewohnt frei zu laufen, jetzt muss er an Leine und Halsband mit dir in den Park gehen.“ „Meinst du er fühlt sich eingesperrt bei uns?“ Pia fing an zu weinen. „Ich wollte doch nur, dass er ein schönes Leben mit uns hat.“ „Das weiß ich doch Pia und paß auf, in ein paar Monaten hat Chico sich an all das gewöhnt und ist ein glücklicher Hund, der sein Luxuskörbchen liebt. Schließlich hätte ich mir von den Betrag schon fast ein Bett für mich kaufen können!“ Jetzt musste sogar auch Pia wieder lachen. „Stimmt Tom! Dabei habe ich doch extra sofort das Preisschild abgeschnitten und in den Mülleimer geworfen, aber dir entgeht ja wieder nichts.“
Einige Monate später mussten sich beide jedoch eingestehen, dass es so mit Chico nicht weitergehen konnte. Sie hatten alles mögliche versucht, um es ihm leichter zu machen. Pia fuhr jeden Mittag mit Chico in die Felder, damit ihn der Straßenlärm nicht stresste. Sie hatten eine kompetente Hundetrainerin gefunden, die viel mit ihnen übte und Susanne ihre Nachbarin begleitete sie auf den Spaziergängen mit ihrer Hündin Maya. Maya war eine sehr gelassene Hündin und sie hatten gehofft, dass ihre Ruhe sich auch auf Chico übertragen würde. Aber nichts davon hatte die Situation verbessert. „Und wenn er vielleicht krank ist? Vielleicht sollten wir ihn gründlich durchchecken lassen?“ „Mach das Pia, aber ich glaube nicht daran, dass es daran liegt.“ Und Tom sollte leider recht behalten.
„Wir können bei Chico keine gesundheitlichen Ursachen finden Frau Sander.“ Pia wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Jetzt musste sie der Tatsache ins Auge schauen, dass Chico mit seinem Leben in Deutschland nicht zurechtkam. Fünf Kilo hatte er schon abgenommen seit er bei ihr war und was für Pia das schlimmste war - er hatte seinen Glanz in den Augen verloren. Da war keine Lebensfreude mehr. Was sollte sie nur machen? Am Abend saß Pia noch lange vor ihrem Computer und schaute sich die Bilder von Spanien an. Wie anders Chico dort ausgesehen hatte. Sie musste lächeln, als sie daran dachte was für ein Clown er gewesen war. Wie sehr hatte sich der Kindskopf über einen alten Ball gefreut, den er am Strand gefunden hatte. Ausgelassen war er damit am Strand entlang getobt. Insgeheim gab sie Tom heute auch recht - wie ein unglücklicher Hund hatte Chico damals nicht ausgehen. Da fielen ihr auch wieder die Worte von dem Ladenbesitzer ein: „Chico no está solo, nos tiene a nosotros. Somos sus amigos… (Chico ist nicht einsam, er hat uns. Wir sind seine Freunde…) Und dann komme ich und bin der Meinung, dass das alles nichts wert ist. Nehme Chico seine Freiheit und alles was er bisher kannte. Plötzlich wusste Pia, was sie machen musste.
Eine Woche später - kurz vor Weihnachten saß sie mit Chico im Auto und war auf den Weg nach Spanien. Tom hatte so kurzfristig keinen Urlaub bekommen, worüber sie insgeheim auch ein bisschen froh war. So musste sie nicht die Tapfere spielen und hatte Chico noch ein bisschen für sich alleine. „Du bist sicher, dass das die richtige Entscheidung für dich, Pia?“, hatte Tom sie gefragt, als sie ihm von ihren Entschluss erzählte, Chico wieder zurück nach Spanien zu bringen. „Ob es für mich die richtige ist, weiß ich nicht Tom, aber für Chico ist es das Beste, da bin ich mir sicher.“ Nach den ersten Kilometern wäre sie am liebsten einfach umgedreht. Vielleicht haben wir ja doch noch eine Chance, sagte ein leise Stimme in ihrem Kopf. Aber dann brauchte sie sich nur Chico anzuschauen, wie er da lag, einfach ins nichts schaute und noch nicht mal auf ihre Stimme reagierte.
Als sie in dem kleinen spanischen Dorf ankamen, wusste sie zunächst überhaupt nicht, wo sie mit Chico hinfahren sollte. Ihn einfach an dem verlassenen Grundstück rauszulassen brachte sie nicht übers Herz. Sie beschloss daher zuerst zu dem netten Ladenbesitzer mit ihm zu fahren. Natürlich war der Laden geschlossen - da hätte sie auch dran denken müssen, schimpfte Pia mit sich selbst, schließlich war heute ja auch Heiligabend.Während Pia noch überlegte, was sie jetzt mit Chico machen sollte, hörte sie Musik und Gesang aus einem kleinen Hinterhof. Chico hatte es auch gehört und spitzte die Ohren. Seine Rute fing an zu wedeln und eh sie sich versah rannte er los. „Chico, ¿de dónde eres?“ (Chico, wo kommst du denn her?) hörte Pia kurz danach einen Mann rufen. Als auch sie den Innenhof erreichte traute sie ihren Augen nicht. Chico war wie ausgewechselt. Aufgeregt rannte er um den großen Tisch herum und wusste überhaupt nicht, wen er zuerst begrüßen sollte. Sein ganzer Hundekörper bebte vor Freude und Pia hätte schwören können, dass der Streuner ein breites Grinsen im Gesicht hatte. Auch die Dorfbewohner freuten sich sichtlich „ihren“ Chico wiederzusehen. „Bitte nehmen Sie doch Platz und feiern sie mit uns!“ Der Ladenbesitzer, den Pia schon kannte eilte auf sie zu und führte sie zu dem Tisch. „Chicos Freundin ist auch unsere Freundin!“ Schon kurze Zeit später fühlte Pia sich heimisch wie in einer wunderbaren großen Familie.
Fast jeder der Dorfbewohner hatte Chico heimlich eine Leckerei vom Tisch zugesteckt und jetzt lag Chico entspannt unter dem großen Tisch und schlief. „Wir haben unseren Chico sehr vermisst“, erzählte der Ladenbesitzer, der sich als Alfredo vorstellte. „Er gehört für uns zu unserer Dorfgemeinschaft und wir lieben ihn.“ Pia schämte sich. Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass Chico auch den Dorfbewohnern wichtig sein könnte. Natürlich war sie damals überzeugt gewesen das richtige zu tun. Aber hatte sie Chico wirklich ein besser Leben bieten können, als das was er hier hatte? Trotz allem war Pia aber dann doch erleichtert, dass Chico in Zukunft auch einen festen Schlafplatz bei Alfredo, den Ladenbesitzer bekommen sollte. Gemeinsam trugen sie am späten Abend Chicos Sachen in seine Wohnküche und beide mussten über den Anblick des „Luxus-Körbchen“ in dem ansonsten praktisch eingerichteten Raum lachen. Ohne Chico fuhr Pia dann zu ihrem Hotel weiter.
Bevor Pia sich dann am nächsten Tag wieder auf den Weg nach Deutschland machte, besuchte sie Chico noch einmal. Wie bei ihren ersten Dorfbesuch fand sie ihn wieder mit der jungen Hündin an der verlassenen Hütte. Auch diesmal kam Chico sofort freudig zur hingelaufen und legte seinen großen Kopf auf ihre Beine. Mit seinen großen braunen Augen schaute er Pia an und sie konnte nicht anders als ihn fest an sich zu drücken. „Mach es gut, mein Großer - ich werde dich vermissen! Pia fing an zu weinen und Chico leckte ihr die Tränen vom Gesicht - dann drehte er sich um und rannte zurück zu der Hündin.
Auf der Heimfahrt musste Pia an ein Zitat von Sergio Bambaren denken:
Auf der Heimfahrt musste Pia an ein Zitat von Sergio Bambaren denken:
Vielleicht bedeutet Lieben auch lernen, jemanden gehen zu lassen.
Wissen, wann es Abschied nehmen heisst.
Nicht zuzulassen, dass unsere Gefühle dem im Weg stehen,
was am Ende wahrscheinlich besser ist für die, die wir lieben.
Wissen, wann es Abschied nehmen heisst.
Nicht zuzulassen, dass unsere Gefühle dem im Weg stehen,
was am Ende wahrscheinlich besser ist für die, die wir lieben.
Es war eine schwere Entscheidung - aber auch die richtig für Chico und im nächsten Sommer würde sie ihn und seine Freunde besuchen…
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Bine & Gubacca